Kann skeptische Methode System?
Zum Verfahren bei Kant und Platon
Im Zentrum skeptischer Verfahren, so wie ich sie verstehe, steht stets in einem theoriekonstitutiven Sinn ein Frage- und Antwort-Spiel. Diese Eigenschaft taugt zunächst einmal hinreichend dazu, skeptisch-philosophische Texte von Texten, die anderen Methoden folgen, zu unterscheiden.
Sicherlich werden in allen philosophischen Schriften Antworten auf Fragen gegeben. Allerdings haben diese Fragen meist eine nur indirekte Funktion – sie dürfen den Ausgangspunkt für den Untersuchungsgegenstand darstellen. Sie hatten also ihren Auftritt, bevor der Text formuliert wurde. Denn methodisch sind die meisten philosophischen Texte auf ein Ziel ausgerichtet, das mit Blick auf diese Frage-Antwort-Struktur darin besteht, die Fragen zu überwinden und die Antworten als Überwindungsleistung zu präsentieren. Ist man damit erfolgreich, muss man zu den Fragen nicht mehr zurückkommen – sie sind dann erledigt. Nicht nur Fragen, auch alles Zweifeln überhaupt, soll philosophisch besser erledigt, also überwunden werden, will man eine brauchbare Theorie oder ein brauchbares System liefern. So lautet jedenfalls die neuzeitliche Grundüberzeugung seit der angeblichen Überwindung des radikalen Zweifels durch Descartes‘ Cogito ergo sum.
Nur kommt der Zweifel natürlich durch die Hintertür zurück, nicht mehr unbedingt als radikaler Zweifel, aber als Zweifelchen, es sind sogar oft ganze Hundertschaften von Zweifelchen. Immer dann, wenn jemand eine Theorie vorlegt, eine bestimmte Grundidee hat und diese durch Argumente abzusichern sucht, wird sich jemand finden, der Einwände hat, der Zweifel äußert an der Qualität und Tauglichkeit oder dem Rechtfertigungsweg der Argumente.
Das bedeutet, man hat die Fragen vielleicht durch die eigenen Antworten erledigt, allerdings gilt das nur für den Horizont der eigenen Überzeugungen, der eigenen Begriffs- und Argumentspektren sowie natürlich für die eigene Methode. Jemand anders setzt vielleicht ganz anders an, aber auch er oder sie kann nur versuchen, eben in jeweils verschiedener Weise philosophische Fragen zu bearbeiten und damit zu: erledigen.
Nun gibt es zwei Wege, wie man die philosophischen Fragen innerhalb der Theorie und vor allem innerhalb der Theoriepräsentation als solche bewahren kann, in ihrer Funktion als Fragen, die Fragen bleiben und nicht endgültig durch eine Antwort erledigt und eliminiert werden sollen: der erste ist der rhetorische Weg der Konzeption in Form von Dialogen oder Traktaten, die einen hohen Anteil an Spott oder Satire aufweisen, der zweite ist der kritische Weg, wie Kant ihn vorlegt. Das, was ich für beide gleichermaßen betonen möchte, ist die Tatsache, dass es nicht darum geht, die philosophischen Zweifel zu eliminieren, sondern dass Zweifel jeweils konstitutiv Bestandteil auch der Theorie-Präsentation sein sollen. Für diese Präsentation geht es, etwa im Falle Kants, aber natürlich nicht darum, dass durchgängig alles in Frage zu stellen und zu keinem Problem irgendeine Art von Antwort zu finden wäre – nein: natürlich werden Antworten gefunden und geprüft, und einige von ihnen müssen auch im weiteren Verlauf nicht mehr kritisch thematisiert werden, oder genauer gesagt: in bestimmten Aspekten müssen sie nicht mehr kritisch thematisiert werden, aber in bestimmten anderen Hinsichten durchaus.
Mit Blick auf philosophische Dialoge muss man allerdings verschiedene Formen unterscheiden. Die platonische Form ist klarerweise eine Form, für die gilt, dass die Fragen und Zweifel elementarer Bestandteil der Präsentation sind. Ein Protagonist übernimmt die Rolle des Fragens und Nachfragens, andere Figuren antworten, häufig in einer Weise, dass deutlich werden soll, sie haben zuvor noch nicht über das angesprochene Problem nachgedacht. Man kann ihnen also beim Nachdenken, dem Fragenden hingegen bzw. dem Autor bei der klugen Abzweckung und Komposition des Dialogverlaufs zugucken.
Die aristotelische Dialogform, wie sie sich besonders auch in Traktaten der frühen Neuzeit findet, zum Beispiel bei Galilei, bei Henry More, Descartes, Hume, Berkeley und anderen, ist eher eine Form, den Dialogpartnern bestimmte Überzeugungen, teilweise inklusive treffender Decknamen, zu verpassen. Die Leser und Leserinnen können diesen Kontrahenten beim Disputieren zugucken, und dieses ist inhaltlich häufig getragen von Vorüberzeugungen und ganz bestimmten philosophischen Positionen, wobei diese häufig erschüttert werden und damit der Zweifel genährt wird. Dramaturgisch ist es hier allerdings häufig so, dass stärkere und schwächere Positionen vorgesehen sind, manchmal gar einer der Dialogpartner als ein regelrechter Trottel angelegt ist, dessen Beiträge von den Opponenten in der Luft zerrissen werden. Das heißt, obwohl Fragen an das Gegenüber im Disput, in der Unterhaltung, im Dialog, natürlich involviert sind, geht es hier darum, verschieden starke Positionen im Kontrast untereinander so zu präsentieren, dass die Güte der Argumente zum Vorschein kommt. Und ein gutes Argument soll auch hier den Zweifel vernichten oder die Nachfragen erledigen.
Man kann feststellen, dass sich die Philosophietradition teilt: einige präferieren in Theoriebildung und Methode die Ausrichtung an Lehrsätzen, Gesetzen, Axiomen und Begründungsbegründungen. Man ist überzeugt von der Tauglichkeit der eigenen Methode und recht sicher, dass bei hinreichend präziser Arbeitsweise eine Gewissheit in Gegenstandsfragen nicht mehr nur gesucht, sondern auch in der Tat gefunden wird.
Andere hören im Kontrast dazu niemals auf, auch die Angemessenheit des Vorgehens zu thematisieren und infragezustellen. Das Ermitteln theoretischer Resultate erfolgt hier zumeist zweigleisig, indem es stets zugleich auf Gegenstandsfragen als auch auf Methodenfragen bezogen ist, was immer auch bedeutet, dass man den Aspekt der Selbstkritik den Grundlagen nach beständig integriert. Ich behaupte nun, dass das am wirkungsvollsten und klügsten in Texten passiert, die doppelbödig angelegt sind, d. h. die mit rhetorischen Tricks arbeiten und zum Beispiel an bestimmten Stellen einen Gedanken enthalten, der beim Lesen zur Erschütterung von Gewissheiten führt.
Man kann das vielleicht mit Verweis auf das Buch „Alice im Wunderland“ veranschaulichen. Allgemein schlägt man „Alice im Wunderland“ zum Genre der Nonsens-Literatur. Bedeutet das, dass in diesem Buch keinerlei Sinn enthalten ist? Nein, natürlich nicht. Entscheidend ist ja, dass das ‚Unsinnige‘ seine Überzeugungskraft erst aus der Verflechtung mit Sinnhaftem gewinnt, dass also zum Beispiel allgemein übliche Größen- oder Gravitationsverhältnisse bei der Lektüre bekannt sein müssen, dass logische Grundkompetenzen vorhanden sein müssen, sonst erschließt sich nämlich das Spiel mit Paradoxien und der Kontrast zwischen ‚Sinn‘ und ‚Unsinn‘ überhaupt nicht. Klarerweise muss ich dabei wissen, in welchen Kontexten oder in welchem Denk-Rahmen eine Überlegung sinnvoll, eine andere Überlegung unsinnig ist. Durch den häufigen Wechsel dieser Geltungskontexte erzeugen manche solcher philosophischen und manche der Nonsens-Texte das Bewusstsein einer bestimmten logischen Mehrdimensionalität. Nonsens-Texte spielen außerdem mit den LeserInnen und ihren Lese-Erwartungen, und sie heben die LeserInnen dadurch, im Vollzug der Spielerei, auf Augenhöhe. Genau das, so meine ich, haben auch skeptische (philosophische) Texte im Sinn.
Im Kontrast zu solchen Umgangsformen mit den Möglichkeiten des Denkens hinterfragen ‚dogmatische‘ philosophische Texte einen Geltungskontext, in den sie sich gestellt haben, nicht, und sie thematisieren auch nicht spielerisch andere, gegensätzliche Möglichkeiten, wie man auf einen Gegenstand oder eine Methode blicken könnte. Doxisches Denken, dogmatische Philosophie zeichnet sich, so ließe sich als eine etwas grobkörnige Einsicht erst einmal festhalten, durch eher eindimensionale Problembehandlung aus. Nonsens-Texte können und an Paradoxien orientiertes Denken kann mehr, weil es mehrere Dimensionen des Denkens einbezieht, weil es performativ selbstreflexiv verfährt oder doch verfahren kann und weil es durch die Erschütterung von Gewissheiten die LeserInnen zum Mitdenken und zum Reflektieren über die Ausgangspunkte ihres Denkens anregt. Dogmatische Philosophie produziert Theorien, bestehend aus Daten, Begriffen, Definitionen, Sätzen, Satzverknüpfungen und Schlussfolgerungen, mit denen man ‚Recht haben möchte‘. Man wirft mitunter in die Formulierung dieser Sätze und in die Produktion der Theorien alle Ernsthaftigkeit und persönliche Überzeugung, die man aufbringen kann. Man ist nötigenfalls bereit, sie auf eine Weise zu verteidigen, die selbst nicht mehr unbedingt als philosophisches Vorgehen bezeichnet werden kann. Das Ziel besteht darin, zu Einsichten zu gelangen, die so gut begründet sind, dass niemand je mehr etwas dagegen ins Feld führen kann. Ein Nebeneffekt, der bei manchen Autoren auftritt, kann dabei sein, dass sie die Wahrheit zu besitzen meinen.
Die Gegenseite hat eine ganz andere Idee von dem, was Philosophie leisten kann und leisten soll. Ihr Ziel ist: das Spiel mit der Wahrheit zum Zwecke der Einsicht in die Bedingungen von Wahrheit. Ihre Vertreter mahnen: seid vorsichtig mit dem Wahrheit-Besitzen! Das hat der Welt noch nie gut getan, im harmlosesten Falle macht Ihr Euch zu Narren, im schlimmsten Falle führt Ihr Krieg für Eure Wahrheits-Besitz-Überzeugung. Diese Seite der Philosophie verwendet von jeher ein ungleich größeres Instrumentarium an Ausdrucks- und Kompositionsweisen philosophischer Texte. Ihre Art zu philosophieren gehört in die Tradition philosophischer Rhetorik bzw. ‚Rhetorilogik‘ und des Skeptizismus. Sie kennt Doppelbödigkeit, also Verschränkung von eigentlicher und uneigentlicher Rede, vor allem im Gebrauch von Ironie und Satire, benutzt Figuren und Dialoge zur Komposition und Modifikation bestimmter Debatten-Aspekte, arrangiert komplexe Schichten der Irritation und Infragestellung angeblich sicheren Wissens und stellt eben schlicht und ergreifend fortwährend infrage, was jemand, unter Umständen auch in vorangegangenen Sätzen im eigenen Text, behauptet hat.
Dabei muss man sie eben aufgrund der komplexen Komposition von der pyrrhonischen Skepsis unterscheiden, die antritt, um jeden Anspruch auf irgendeine Art von Wissen für nichtig zu erklären. Darum geht es nicht, das wäre ja langweilig. Es geht um das Spiel mit Gewissheiten, um die Einsicht in die genauen Umstände und Begleiterscheinungen des im Ursprung Sokratischen ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘. Dieses Diktum ist selbst eine der prominentesten Äußerungen auf dieser Seite der Tradition, und es thematisiert doppelbödig unser Selbstverhältnis als Wissende.
Eine sehr eindrucksvolle Figur, die man zu dieser skeptischen Linie des Philosophierens zählen kann, ist John Toland. Er war, neben David Hume, Thomas Hobbes, dem Earl of Shaftesbury und Alexander Pope, und natürlich neben Voltaire, La Mettrie und Rousseau, ein wichtiger Autor der Aufklärungsepoche. Die satirische Spielfreude der genannten Autoren mit philosophischen Gewissheiten wird leider, so meine ich, im Großen und Ganzen komplett unterschätzt. Die rhetorische, skeptische, satirische Seite der Aufklärungs-Philosophie wird von den Konventionalisten und Dogmatikern nicht ‚ernst‘ genommen, ihre Vertreter werden nicht als gleichberechtigt angesehen, da sie ja angeblich nicht mit derselben Ernsthaftigkeit antreten und da sie ganz offenkundig nicht bereit sind, ihre Überzeugungen als Gewichte mit in die Waagschale der unabhängigen Prüfung und Entscheidung über ein philosophisches Argument zu werfen.
Toland, der unter anderem auch mit Leibniz korrespondierte, hat, so ist es überliefert, häufig mitten in einem philosophischen Gespräch, unvermittelt, den Standpunkt seines Kontrahenten eingenommen und verteidigt – ein Vorgehen, das natürlich zu großem Ärgernis und schwerer Verunsicherung führte.[1] Abgesehen davon, dass man nun gar nicht mehr wusste, woran man mit ihm war, sah sich der Gesprächspartner in gewisser Weise gespiegelt und fühlte sich höchstwahrscheinlich nicht mehr recht <ernst> genommen. Man weiß nicht, ob das Gespiegeltwerden oder der fehlende <Ernst> das größere Problem darstellte.
Die Intention der Akteure, also etwa Tolands, war aber klarerweise nicht (nur), andere auf den Arm zu nehmen, sondern eine zusätzliche Reflexionsebene einzuziehen,[2] und zwar unmittelbar während des Geschehens, nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt. Die Satiriker der Aufklärungszeit waren sich sehr klar darüber, dass man nicht im Übermaß spotten und irritieren dürfe, weil das möglicherweise den Effekt haben könnte, dass irgendwann niemand mehr irgendetwas ‚ernst‘ nehmen würde.[3]
Nun bestand die Strategie bestimmter anderer Autoren im 17. und 18. Jh., sich gegen diese Satiriker zur Wehr zu setzen, unter anderem darin, dass man deren Ansätze als Theorien über Wahrscheinlichkeiten aufzufassen begann, während man für die eigene Theorie eben nicht die Suche nach Wahrscheinlichkeiten, sondern natürlich das Streben nach Wahrheit im Sinne hatte. Und das sollte mit Hilfe von Logik und Mathematik, zum Beispiel anhand der Methode more geometrico, gelingen. Ich spreche von Autoren wie Christian Wolff, Christian August Crusius, Gottfried Wilhelm Leibniz, Charles Bonnet, Johann Heinrich Lambert und vielen anderen.
Kant legt in einem Zeitraum von rund fünfzig Jahren eine ganze Reihe an größeren Traktaten und viele kleinere Schriften vor. Meiner Meinung nach bilden sie alle zusammen, eingeschlossen einige, die nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht werden konnten, eine einzige Argumentation, und zwar eine Argumentation, die viele Umwege und Volten in der Durchführung enthält. Ich meine, die Hauptlinien dieser Argumentation standen von Anfang an fest. Das Gesamte, das sich aus allen diesen Texten zusammengenommen ergibt, ist das Kantische System einer transzendentalen, kritisch begründeten Metaphysik. Die Funktionen einer Schrift bei Kant ergeben sich also unter anderem daraus, welche Funktionen sie im Hinblick auf das Ganze haben. Dabei wird für diese sonderbare Art von ‚System‘ in mancher Hinsicht keine Abgeschlossenheit erreicht; in anderer Hinsicht, was zum Beispiel die Grundlegung der Prinzipien seiner kritischen Philosophie oder die Einteilung und Bestimmung zentraler Begriffe betrifft, ist allerdings die Begründungsarbeit so umfassend und durchschlagend, dass diesbezüglich von ihm selbst jeweils keine Zweifel mehr angemeldet werden und keine Methodenskepsis mehr nötig scheint. Es ist daher auch mit Blick auf skeptische Philosophen durchaus möglich, von ‚Systemen‘ zu sprechen, da eben nicht alle philosophischen Fragen mit einer gewissen grundsätzlichen Offenheit traktiert werden.
Nun ist eine partiell skeptische Methodologie, die Ironie und Spott als Mittel der Geltungsprüfung und ‚Wahrheitsprobe‘ versteht, nicht daran ausgerichtet, dass der Autor oder die Autorin sich mit sich selbst über die Belastbarkeit der Begriffe und Argumente unterhält – man muss hier von einer weiteren Dimension ausgehen, die sich der vom Autor projektierten gemeinsamen Gegenwart von Text und LeserInnen verdankt.
Schon die vielen spöttischen und satirischen Texte der Antike und Spätantike und des Humanismus[4] heben die LeserInnen auf die Augenhöhe des Autors. Im 17. Jahrhundert nahm besonders Hobbes die philosophische Nutzung von Spott und Ironie wieder auf, wobei er vor allem darauf setzte, ernst gemeinte und ironische, witzige Passagen miteinander zu verflechten.[5] Hobbes und andere Autoren nutzen indirekte Rede, Anspielungen, Vergleiche und allgemein: die Kluft zwischen dem, was gesagt, und dem, was eigentlich gemeint ist. Neben der Ironie werden Mittel des Sarkasmus, wie Mycterismus (Subsannatio), Aestismus und Diasyrmus eingesetzt. Beim Diasyrmus wird einem Argument Ähnlichkeit mit einem anderen nachgewiesen, das evidentermaßen absurd ist. Zudem nutzt auch Hobbes klassische rhetorische figurae verborum, nämlich: Anaphora; Antithese (Contentio oder Contrarium): zwei sich in anschaulicher Weise widersprechende Wörter werden zu einem Gegensatzpaar verbunden, um die Opposition zu verdeutlichen; Epanaphora (Repetitio): die auffällige direkte Wiederholung eines Wortes; Epanodos, eine Sonderform des Chiasmus, bei der eine Gruppe von Wörtern in umgekehrter Reihenfolge wiederholt wird;[6] Dubitatio; Erotema, die rhetorische Frage (Percontatio) und figurae sententiarum, nämlich Meiosis: Untertreibung, in der Regel ironisch oder lustig angewendet; Litotes: die Hervorhebung durch Untertreibung, Negation des Gegenteils oder doppelte Verneinung; Synchoresis; Aposiopesis (als Sonderform der Ellipse die Auslassung vor allem des Satzschlusses, den jeder sich im Sinne einer beredten Pause hinzudenken kann); Tapinosis (Diminutio): die Herabsetzung eines Zusammenhanges durch unangemessene Schlichtheit des Ausdrucks; Apodioxis (Abominatio, Detestatio, Rejectio): die Herabwürdigung eines Arguments. Diese Stilmittel, vorrangig Dubitatio, Erotemata und Synchoresis, finden sich auch in Kants Texten. Dubitatio meint den ironischen Einsatz eines vorgeschobenen Zweifels oder eines Nichtwissens.[7] Diese Figur setzt auf die Unaufrichtigkeit des Autors, der die LeserInnen nur glauben macht, dass er etwas nicht wisse oder beurteilen könne. Erotemata sind rhetorische Fragen, bei Kant hypothetische Argumente. Synchoresis meint ein Zugeständnis an das Argument des Gegners, mit der Absicht, es später unter besseren Voraussetzungen herabsetzen zu können.
Fragen und Zweifel über die Dauer einer jeweiligen philosphischen Untersuchung hinaus als Element des Methodenverständnisses zu bewahren, gelingt – bei Platon und bei Kant – nur dann, wenn deutlich wird, dass dieselbe Frage oder eine eng verwandte philosophische Frage möglicherweise auch neu oder anders gestellt werden kann, und zwar: je nachdem, von welcher Warte aus man sie stellt, wie man methodisch ausgestattet ist, was man als Werkzeug und als Ausgangspunkt mitbringt. Es kann also zwar sein, dass man eine Frage aus einem bestimmten Blickwinkel tatsächlich erledigt bekommt, und somit den Erfolg einer Antwort vorweisen kann, aber es ist ja niemals auszuschließen, dass sie sich ähnlich eines Tages wieder stellen wird und zwar mit voller Berechtigung wieder stellen wird, weil neue Erkenntnisse oder technische Errungenschaften eine Perspektive ermöglichen, die zuvor vielleicht undenkbar war. Dergleichen ist zumindest nicht auszuschließen und aus der Ideengeschichte auch in der Tat bekannt.
Kann man wirklich im eigentlichen Sinne ein philosophisches System vorlegen, wenn man sich der Eigenschaft der Abgeschlossenheit und der Erledigung jeglicher möglicher Zweifel gar nicht sicher sein kann? Oder ist es eventuell so, dass der Anspruch, ein philosophisches System vorzulegen, bei denjenigen in einer komplexeren Form vorhanden ist, die ihre Texte für das Mitdenken der Leser und Leserinnen offen halten? Meine Antwort ist: Ihr Systemanspruch hat eine zeitliche Dimension mehr, da er künftige Welten – über die antizipierten Leser und Leserinnen anderer Generationen – mit anspricht und mit einschließen kann.
Mit Blick auf die LeserInnen konzipieren manche skeptischen Autoren einen Meta-Dialog. Shaftesbury etwa, der seine eigene Rolle als Autor in den Miscellanien (1714 posthum veröffentlicht) verdoppelt, kommentiert darin seine eigenen Schriften, als stammten sie von einem anderen Autor, wobei er die LeserInnen zu RichterInnen erklärt. Damit etabliert er natürlich einen solchen Meta-Dialog.[8] Auch bei Kant findet ein solcher Meta-Dialog statt, sowohl indirekt, wie ich in einem anderen Text erläutere, als durchaus auch direkt. Die LeserInnen werden durch das gesamte Werk verteilt immer mal wieder angesprochen. Es wird der Prozess des Durchdenkens hypothetischer Argumente angesprochen oder manch Schwierigkeit, die in bestimmten Theorien (anderer Autoren) steckt. Es folgt nun eine Auswahl der rund 150 relevanten Stellen im Druckwerk; eine überraschend große Zahl findet sich in der ersten Schrift: „Ich habe meine Leser dieser Mühe überhoben, [...]“.[9] – „Wir könnten noch mehr wie einen Streif in das Gebiete unserer Gegner thun, ihre Güter ausplündern, und dem Anhange des Cartesius so viel Siegeszeichen und Triumphbogen errichten; allein ich glaube, meine Leser werden kein großes Verlangen darnach bezeigen.“[10] – „Dieses Unterfangen wird die meisten von meinen Lesern stutzig machen; [...].“[11] – „[...] die Ermüdung, welche ich in einer so rauhen und ungebähnten Materie mit Recht von der Aufmerksamkeit meines gelehrten Lesers besorge, [...]“.[12] – „Nunmehro komme ich dahin, [...] meinen geneigten Leser vor alle mühsame Aufmerksamkeit, die ihm gegenwärtige schlechte Aufsätze verursacht haben, mit einer siegreichen Ueberzeugung [zu] belohnen.“[13] – „Die besondere Beschaffenheit dieses vorhabenden Versuches, giebt noch einige ausserordentliche Merkmahle an die Hand, die zu besondern Anmerkungen Anlaß geben können; allein ich kan mich durchaus in dieselbe nicht einlassen, nachdem die Aufmerksamkeit des geneigten Lesers, durch so viel verwickelte Untersuchungen ermüdet, vielleicht nichts mehr als den Schluß dieser Betrachtungen wünschet.“[14] – „Was ich aus diesen Analogien geschlossen habe, wird die Abhandlung selber der Untersuchung des vorurtheilfreyen Lesers darlegen.“[15] – „Wenn ich indessen den geneigten Leser zur Prüfung meiner Meinungen einlade, so besorge ich mit Recht, daß, da Hypothesen von dieser Art gemeiniglich nicht in viel besserem Ansehen, als philosophische Träume stehen, es eine saure Gefälligkeit für einen Leser ist, sich zu einer sorgfältigen Untersuchung von selbst erdachten Geschichten der Natur zu entschließen und dem Verfasser durch alle die Wendungen, dadurch er den Schwierigkeiten, die ihm aufstoßen, ausweicht, geduldig zu folgen [...].“[16] – „[...]; allein ich will meine Meinungen lieber in der Gestalt einer Hypothese vortragen und der Einsicht des Lesers es überlassen, ihre Würdigkeit zu prüfen, als durch den Schein einer erschlichenen Ueberführung ihre Gültigkeit verdächtig machen und, indem ich die Unwissenden einnehme, den Beyfall der Kenner verlieren“.[17] – „Die gegenwärtige Erklärung hat keine andere Würdigkeit, als diejenige, welche Muthmaßungen zukommt, und keinen Anspruch, als nur auf einen willkührlichen Beyfall; das Urtheil des Lesers mag sich auf diejenige Seite wenden, welche ihm die annehmungswürdigste zu seyn dünkt.“[18] – „Ich muß meine Leser um Verzeihung bitten, daß ich sie so weit an dem Firmament herumgeführt habe, um von den Begebenheiten richtig urtheilen zu können, die auf unserer Erde vorgegangen sind. Die Mühe, die man anwendet, die Quellen der Irrthümer zu verstopfen, verschafft uns auch ein gereinigtes Erkenntniß.“[19] – „Ich führe alles dieses nur kurz an und setze voraus, daß das eigene Nachdenken des Lesers das nöthige Licht über das Vorgetragene ausbreiten werde.“[20] – „Ich wünschte, daß sich meine Leser auf einen Augenblick in diejenige Verfassung des Gemüths versetzen könnten, welche Cartes für so unumgänglich nöthig zur Erlangung richtiger Einsichten hält [...].“[21] – „Ich bin demnach und villeicht ein Theil meiner Leser mit mir überzeugt, ich bin zugleich erfreut, mich als einen Bürger in einer Welt zu sehen, die nicht besser möglich war.“[22] – „Ich habe mich so wenig wie möglich mit Widerlegungen eingelassen, so sehr auch meine Sätze von anderer ihren abweichen. Diese Entgegenstellung ist etwas, das ich dem Nachdenken des Lesers, der beyde eingesehen hat, überlasse.“[23] – „Von dieser Bemerkung will ich nur noch einen Schritt thun, um mich einem wahrscheinlichen Begriff von der Entstehungsart dieser großen Massen und der Ursache ihrer Bewegungen zu nähern, indem ich die gründlichere Vollführung eines geringen Schattenrisses dem forschenden Leser selbst überlasse.“[24] – „Ich bemerke wohl: daß Lesern von aufgeklärter Einsicht in die bisherige Erläuterung weitläuftiger vorkommen werde, als nöthig ist.“[25] – „Ich habe diese zwei Sätze in der Absicht vorgetragen, um den Leser zum Nachdenken über diesen Gegenstand einzuladen. Ich gestehe auch, daß sie für mich selbst nicht licht genug, noch mit genugsamer Augenscheinlichkeit aus ihren Gründen einzusehen sind.“[26] – „Und da frage ich jeden Leser, ob, wenn er sich in Gedanken auf diesen Fall setzt, er nicht meiner Meinung beistimmen müsse.“[27] – „Warum sollte es mir nicht auch erlaubt seyn im akademischen Tone zu reden, der entscheidender ist und sowohl den Verfasser als den Leser des Nachdenkens überhebt, welches über lang oder kurz beide nur zu einer verdrießlichen Unentschlossenheit führen muß.“[28] – „Daher verdenke ich es dem Leser keinesweges, wenn er, anstatt die Geisterseher für Halbbürger der andern Welt anzusehen, sie kurz und gut als Candidaten des Hospitals abfertigt und sich dadurch alles weiteren Nachforschens überhebt.“[29] – „Dem Leser bleibt das Urtheil frey; was mich aber anlangt, so ist zum wenigsten der Ausschlag auf die Seite der Gründe des zweyten Hauptstücks bey mir groß gnug [...].“[30] – „Da ich mich jetzt beym Schlusse der Theorie von Geistern befinde, so unterstehe ich mir noch zu sagen: daß diese Betrachtung, wenn sie von dem Leser gehörig genutzt wird, alle philosophische Einsicht von dergleichen Wesen vollende [...].“[31] – „Ich kann es dem behutsamen Leser auf keinerley Weise übel nehmen, wenn sich im Fortgange dieser Schrift einiges Bedenken bey ihm geregt hätte über das Verfahren, das der Verfasser für gut gefunden hat darin zu beobachten.“[32] – „Allein ich bitte den Leser gar sehr dergleichen nicht von mir zu glauben.“[33] – „Ich habe also meine Zeit verloren, damit ich sie gewönne. Ich habe meinen Leser hintergangen, damit ich ihm nützte.“[34] – „Es ist kein Wunder, wenn der Leser diese Begriffe noch sehr unverständlich findet, die sich auch allererst im Fortgange aufklären sollen.“[35] – „Ein nachsinnender Leser wird daher den Begriff des Raumes, so wie ihn der Meßkünstler denkt [...], nicht für ein bloßes Gedankending ansehen, obgleich es nicht an Schwierigkeiten fehlt, die diesen Begriff umgeben, wenn man seine Realität, welche dem innern Sinne anschauend gnug ist, durch Vernunftideen fassen will.“[36] – „Ob ich nun das, wozu ich mich anheischig mache, in diesem Stücke geleistet habe, das bleibt gänzlich dem Urtheile des Lesers anheim gestellt, weil es dem Verfasser nur geziemt, Gründe vorzulegen, nicht aber über die Wirkung derselben bey seinen Richtern zu urtheilen.“[37] – „hier [...], da ich mir die Erlaubniß nehme, zu meinen, und dem Leser also auch frey stehen müsse, anders zu meinen“.[38] – „Hier erwarte ich an meinem Leser die Gedult und Unpartheylichkeit eines Richters, dort aber die Willfährigkeit und den Beistand eines Mithelfers.“[39] – „So muß denn der Leser von der unumgänglichen Nothwendigkeit einer solchen transscendentalen Deduction [...] überzeugt werden, weil er sonst blind verfährt [...].“[40] – „[...] allein der schon geübte Leser wird dieses von selbst thun, oder den Leitfaden dazu leicht entdecken“.[41] – „Allein ich muß, um Weitläuftigkeit zu vermeiden, die Beyspiele davon dem Nachdenken des Lesers überlassen.“[42] – „[...] so verschwindet diese Schwierigkeit, und es bleibt keine andere übrig, als die, wie überhaupt eine Gemeinschaft von Substanzen möglich sey, welche zu lösen ganz außer dem Felde der Psychologie, und, wie der Leser, nach dem, was in der Analytik von Grundkräften und Vermögen gesagt worden, leicht urtheilen wird, ohne allen Zweifel auch außer dem Felde aller menschlichen Erkenntniß liegt.“[43] – „Ich will sie jetzt nur anführen und es dem schon geübten Leser überlassen, den trüglichen Grundsätzen weiter nachzuforschen und sie aufzuheben.“[44] – „Ich setze also Leser voraus, die keine gerechte Sache mit Unrecht vertheidigt wissen wollen.“[45] – „Der critische Weg ist allein noch offen. Wenn der Leser diesen in meiner Gesellschaft durchzuwandern Gefälligkeit und Geduld gehabt hat, so mag er jetzt urtheilen, ob nicht, wenn es ihm beliebt, das Seinige dazu beizutragen, um diesen Fußsteig zur Heeresstraße zu machen, dasjenige, was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegenwärtigen erreicht werden möge: nemlich die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich, beschäfftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen.“[46] – „Diese Arbeit ist schwer und erfordert einen entschlossenen Leser.“[47] – „Auch muß ein jeder einsehende Leser, wenn er diese Aufgabe nach ihrer Forderung sorgfältig überdenkt, anfangs durch ihre Schwierigkeit erschreckt, sie für unauflöslich, und gäbe es nicht wirklich dergleichen reine synthetische Erkenntnisse a priori, sie ganz und gar für unmöglich halten.“[48] – „Wenn der Leser sich über Beschwerde und Mühe beklagt, die ich ihm durch die Auflösung dieser Aufgabe machen werde, so darf er nur den Versuch anstellen, sie auf leichtere Art selbst aufzulösen.“[49] – „Ich wünsche daher, daß der kritische Leser sich mit dieser Antinomie hauptsächlich beschäftige, weil die Natur selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen und zur Selbstprüfung zu nöthigen. [...] Wenn der Leser nun durch diese seltsame Erscheinung dahin gebracht wird, zu der Prüfung der dabey zum Grunde liegenden Voraussetzung zurückzugehen, so wird er sich gezwungen fühlen, die erste Grundlage aller Erkenntniß der reinen Vernunft mit mir tiefer zu untersuchen.“[50] – „Dies ist nun die Aufstellung und Auflösung der ganzen Antinomie, [...], wenn gleich die Auflösung dieses Widerstreits den Leser, [...], hiedurch noch nicht völlig befriedigt haben sollte.“[51] – „Gleichwohl wird jeder unbefangene und vornehmlich in dieser Art von Speculation genugsam geübte Leser nicht unbemerkt lassen: daß der allgemeine Fatalism [...] den Begriff von Verbindlichkeit gänzlich aufhebe.“[52] – „Zu einer solchen Vollständigkeit konnte ich es aber hier noch nicht bringen, ohne Betrachtungen von ganz anderer Art herbeyzuziehen und den Leser zu verwirren.“[53] – „Der Leser wird leicht inne werden, daß unerachtet des etwas Ungewöhnlichen, welches diese Vorstellungsart der Mittheilung der Bewegung an sich hat, sie sich dennoch in das hellste Licht stellen lasse, wenn man die Weitläuftigkeit der Erläuterung nicht scheuet.“[54] – „[...] es könnten der Muthmaßungen für den Leser leicht zu viel, der Wahrscheinlichkeiten aber zu wenig werden, [...].“[55] – „Um deswillen ersuche ich den Leser, das, was zum Schlusse der Analytik über diesen Begriff gesagt wird, nicht mit flüchtigem Auge zu übersehen.“[56] – „Aus diesen Erinnerungen wird der Leser der Kritik der reinen speculativen Vernunft sich vollkommen überzeugen: wie höchstnöthig [...] jene mühsame Deduction der Kategorien war.“[57] – „Doch das ist nur meine beyläufige Meinung, die ich dem beliebigen Urtheile des Lesers Preis gebe.“[58] – „Der Leser wird diesen Entwurf zu einer möglichen Eintheilung der schönen Künste nicht als beabsichtigte Theorie beurtheilen.“[59] – „Überhaupt wird der Leser dieses nur als einen Versuch von der Verbindung der schönen Künste unter einem Princip, [...], beurtheilen und nicht als für entschieden gehaltene Ableitung derselben ansehen.“[60]
Eine grundsätzliche Offenheit für die sich gegebenenfalls ändernden Bedingungen des Geltungsrahmens von Annahmen, Präsuppositionen, Überzeugungen, Begriffen, sowie für die sich ändernden Bedingungen der Datenermittlung, z. B. in Experimenten, thematisiert zugleich das methodische Rüstzeug, und indirekt gehört das sowohl bei Platon als auch bei Kant zum Grundlegenden der Philosophie, zu ihrem Kern, der den Lesern und Leserinnen performativ, durch die Art und Weise der Konzeption der verschiedenen philosophischen Texte, vermittelt wird.
Nun würde man aber eben ein offenes, dialogisches Spiel mit den Fragen nach den Wahrheitsbedingungen nicht als Fundament eines philosophischen Systems im Sinne eines Lehrgebäudes ansehen. Das äußert schon Shaftesbury in den genannten Miscellanien. Er schreibt hier über sich selbst: „Man sieht freilich, daß unser Autor, so hoch er auch gern, als Kritiker, die geläuterte Manier und genaue Simplizität der Alten treiben möchte, es doch nicht wagt, für sich selbst und in seinem Hauptwerke, seine Philosophie in ein festes und gleichförmiges Gebäude zu verbinden, oder sein Argument in einer zusammenhängenden Kette oder Schnur fortzuführen“.[61]
Ich zitiere aus der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, aus dem Artikel ‚Platon‘ (von Matthias Gatzemeier): „Der literarischen Form des Dialogs entspricht philosophisch gesehen eine offene dialogische Art und Weise des Philosophierens; diese bringt es mit sich, daß von einer ‚Lehre‘ im Sinne eines mehr oder weniger geschlossenen Systems von ‚Lehrsätzen‘ bei Platon nicht die Rede sein kann. Im Sinne seines Lehrers Sokrates, der von sich sagt, er wisse nur dies, dass er nichts wisse, vermeidet es Platon, inhaltliche Lehrmeinungen als gesichertes Wissen hinzustellen; lediglich allgemeine Positionen der Art, dass man überhaupt Ideen annehmen und daß es eine Idee des Guten geben müsse, dass Unrecht tun schlimmer sei als Unrecht leiden, dass es besser sei, die Möglichkeit des Lernens anzunehmen als dessen Unmöglichkeit (Menon 86b-c) und dass ein Leben der Vernunft einem Leben der völligen Unvernunft vorzuziehen sei (Philebos 18e-22c), formuliert er explizit als gesichertes Wissen. Methodische Einsichten lassen sich dagegen häufiger als sicheres Wissen bzw. als unabdingbar im Sinne der Philosophie Platons ausmachen, etwa die Methode der Dialogführung, die der Definition, der Prädikation und des vollständigen Satzes“.[62]
Eine Dialektik nach dem Vorbild Platon-Sokrates sucht nach Wahrheit im Rahmen von klar abgesteckten Suchbedingungen. Diese werden transparent gemacht durch die verwendeten Begriffe, gegebenenfalls durch die am Dialog beteiligten Personen, durch die Wahl des Ausgangspunktes im Gespräch und durch die Freilegung von logischem und methodischem Rüstzeug. In einem Aufsatz zu Platons letzten Prinzipien[63] bezweifelt Andreas Eckl, dass die sogenannte Ideenlehre ein elementar wichtiger Bestandteil der platonischen Philosophie sei. Erstens gebe es bei Platon keine im eigentlichen Sinne als Lehre zu bezeichnende Vermittlungsleistung. Zweitens müsse ganz genau auf die Art und Weise der Ausführungen und der Begründungen in jedem einzelnen Dialog gesehen werden. „Was eine platonische Idee ist, lässt sich nur begreifen, wenn man ihre jeweilige Entwicklung im jeweiligen Dialog durchgeht und zusammenfasst. Dazu gehören die Introduktion des Problems, die Kritik an den vorhandenen Meinungen zu seiner Lösung, die Ansetzung einer Hypothese, in der man von der Möglichkeit einer wahren Meinung zum Problem ausgeht und vor diesem Hintergrund inhaltlich einen Vorschlag formuliert, diese Hypothese zu ihrer kritisch-selbstkritischen Prüfung in ihre Konsequenzen entwickelt und am Ende vielleicht noch eine Gegenprobe am inhaltlichen Gegenteil der Hypothese durchführt. Die ganze Politeia ist, so gesehen, die Antwort auf die Frage, was Platons Idee der Gerechtigkeit ist, eingeschlossen die Versuche zur Bestimmung der Ungerechtigkeit, eingeschlossen die Offenheitsstellen, an denen weiteres Nachdenken angeraten wird bzw. geboten ist.“[64]
Methodisch grundlegend sei dabei, dass diese Ideen nie erreicht werden dürfen; philosophisch gehe es immer nur um eine asymptotische Annäherung z. B. an die Idee des Guten oder der Gerechtigkeit im Dialog. Die in ihrer Geltung immer vorläufigen Einsichten seien revidierbar, auch eine solche Revision würde ebenfalls mit Blick auf die eine leitende, aber unerreichbare Idee geschehen, und zwar sei es irrelevant, wann das sein könnte, ob durch Platon selbst im Verlauf der Abfassung seiner Texte oder im dritten nachchristlichen Jahrhundert oder heutzutage oder in viertausend Jahren. „Die dialogische Form des Vortrags dieser Annäherungsversuche zeigt, dass kein dogmatischer Anspruch auf die Wahrheit gestellt wird. Der Autor Platon bewegt sich im dialektisch-logischen Medium ebenso wie seine Dialogfiguren [...]. Er ist ihnen nur insofern voraus, als er die Entwicklung und Darstellung des Problems und seiner Lösungsansätze überblickt und plant, während die Dialogfiguren präsentisch an der Durchführung arbeiten“.[65]
Entlang der Anwendung von Begriffen im Dialog, entlang ihrer Prüfung und der Einsicht in ihre Tauglichkeit oder Untauglichkeit kristallisierten sich zugleich Begriffe, von denen prädiziert wird, sie seien die „wichtigsten“, z. B. Ruhe, Bewegung, Identität und Differenz sowie natürlich der Seinsbegriff. Das platonische philosophische Ganze wäre daher als ein offenes System von immer wieder neu ansetzenden Geltungsprüfungen bestimmter Begriffe oder Aussagen zu verstehen. Die Mittel der philosophischen Erörterung sind: hypothetische Argumente inklusive reductiones ad absurdum, eingeflochtene begriffliche Paradoxien, unterbestimmt oder sogar unbestimmt zur Anwendung kommende Begriffe oder Ausdrücke, die im Verlaufe der Ausführungen verbessert und geschliffen, eingeteilt und voneinander klarer abgesetzt werden.
Das kritische Verfahren Kants ist meines Erachtens methodisch sehr ähnlich aufgebaut. Für Kant ist Philosophie eine diskursive Wissenschaft,[66] daher können Definitionen oder wenigstens vorläufige Definitionen immer erst im Anschluss an bestimmte Erörterungen und Gedankengänge erfolgen. Über viele seiner Schriften hinweg scheint sich Kants Position zu bestimmten philosophischen Fragen zu ändern – das ist jedenfalls ein Eindruck, den man gewinnen kann. Reduziert man die Beobachtung darauf, dass sich in verschiedenen Schriften verschiedene Aussagen zu bestimmten Problemkomplexen finden, dann könnte man auch einfach festhalten: Die Art und Weise, wie Probleme und Fragen behandelt werden, ist nicht durch das gesamte Werk hindurch dieselbe, so wie man es erwarten könnte, wenn man einmal eine Methode und einen Ausgangspunkt dogmatisch festgelegt hat und diesen dann weder ändert noch ständig hinterfragt oder thematisiert.
Um mit diesen auf den ersten Blick als Unsicherheiten des Verfahrens zu lesenden Kontrasten und Divergenzen im Gesamtwerk zurechtzukommen, hat man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Interpretation Kants die Idee einer Denkentwicklung des Autors zugrunde gelegt.
Man hat also gar nicht in Erwähnung gezogen, dass alle diese Merkwürdigkeiten absichtlich in die Texte hineinkomponiert wurden, und dass das Teil einer komplex aufgebauten, rhetorisch fein ausgearbeiteten Gedankenführung in einem argumentativen Sinne ist. Wenn man nun aber hergeht und tatsächlich einmal das Gesamte seines Druckwerks als eine solche Argumentation liest, überzeugt man sich bald von der Plausibilität dieser Zugangsweise. Man gelangt etwa zu der Einsicht, dass über weite Strecken Begriffe vor-terminologisch verwendet werden und ihre Präzisierung und Verbesserung erst im Anschluss an die Prüfung ihrer Tauglichkeit erfolgt, und das geschieht in aller Regel erst in späteren Schriften. Wenn man Kant so liest, wie ich das vorschlage, versteht man ihn als einen Autor, der eine komplexe Komposition eines riesigen Geflechts philosophischer Probleme als Fragengerüst vorlegt, wobei zu den Fragen auch Antworten der Tradition mit einbezogen werden, von denen Kant sich im Verlauf der Gedankenführung absetzt oder die er positiv in seine eigenen Überlegungen integriert. Ein Themenkomplex wird über mehrere Schriften hinweg philosophisch untersucht: Zuerst werden die nötigen Begriffe und Annahmen eingeführt und im Rahmen unterschiedlicher Problematisierungen erörtert. Verschiedene Strategien verschränken sich miteinander, je nachdem, welcher Begriff oder welches Theoriestück bearbeitet wird, sieht man eine Frage mal früher, mal später zur Antwort, ein Rätsel zur Auflösung gebracht.
Das Fragengerüst wird in einer sehr eigenen Weise an den Leser herangetragen, der oder die gar nicht unbedingt sofort merkt, dass sie durch eine Formulierung oder durch eine bestimmte Verwendung eines Begriffs provoziert werden soll und dass sie reagieren soll, indem sie beginnt, selbst nachzudenken über das Gelesene. Ich behaupte also, dass Kant einen indirekten Dialog mit den Lesern und Leserinnen führt, der diese entlang der Druckschriften darin unterrichten soll, selbstständig denken zu lernen. Der ihnen also nicht letztlich nur Gegenstandsproblematik, sondern auch Methodenproblematik nahebringt.
Abschließend soll ein konkreter Einblick in bestimmte Verfahrens-Elemente, die der Problematisierung gewidmet sind, gegeben werden,[67] zunächst auf die durch das gesamte Werk geführte Diskussion der Geltungsbereiche der Mathematik und der Philosophie, sodann auf ein Detail aus der ersten Schrift bezogen.
1. Zum Verhältnis zwischen Mathematik und Philosophie
Die Mathematisierung der Wissenschaften war das Ziel Descartes', Weigels oder Wolffs. Universalmathematiker berufen sich auf das Programm philosophischer Begründung unter Eliminierung von Zweifeln, wie es besonders bei Descartes, Galilei und Hobbes angestrebt wird. An solcher Zweifelresistenz orientieren sich auch Theorien, die aus methodischem Zweifel einen radikalen Idealismus oder Skeptizismus gewinnen. Die cartesische Idee, mit der mathesis universalis eine Verbesserung der Methode der Metaphysik zu erreichen, nimmt Kant in der Werkmitte hypothetisch auf und kontrastiert sie meines Erachtens mit polemischen und spöttischen Angriffen Gassendis. Gassendi, Crusius, Rüdiger, auf seine Art auch Berkeley, sowie viele Thomasianer betrachteten die Universalmathematik als absurd. Crusius und Reimarus verstehen die Mathematik als synthetisch-demonstrative, nicht als analytische Disziplin.[68]
So ist der häufig zitierte Ausspruch Kants, wahre Wissenschaft sei nur dort möglich, wo Mathematik enthalten sei,[69] auch eine Referenz auf Gassendis „Per Mathematicas scimus, si quid scimus“ aus den Exercitationes.[70] Diesen Satz nimmt Kant hinüber in seine Prüfung der Eignung der Mathematik für ein sicheres Fundament der Metaphysik als Wissenschaft, und zwar hinüber aus der klaren Ironie Gassendis, so dass die Äußerung bei Kant keineswegs wortwörtlich zu verstehen wäre. Sie ist vielmehr Teil einer hypothetischen Argumentation. Die Präzisierung des methodischen Fundamentes für eine wissenschaftliche Metaphysik erfolgt bei Kant letztlich nicht durch Mathematisierung oder Quantifizierung, sondern durch die geschärfte und kritisch gerechtfertigte Theorie der denkenden, transzendental explizierbaren Subjektivität. In Prolegomena und Metaphysische Anfangsgründe akzentuiert Kant im Umfeld der Frage, ob sich nicht aber doch objektive Realität der Erkenntnis primär dem äußeren Sinn verdanke, die Mathematik als Garant für Wissenschaftlichkeit und apriorische Erkenntnis - aber nur in den Bereichen, in denen das sinnvoll ist. „Also wird, um die Möglichkeit der Naturdinge, mithin um diese a priori zu erkennen, noch erfordert, daß die dem Begriffe correspondirende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff construirt werde. Nun ist die Vernunfterkenntniß durch Construction mathematisch. Also mag zwar eine reine Philosophie der Natur überhaupt […] auch ohne Mathematik möglich seyn, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge […] ist nur vermittelst der Mathematik möglich, […] da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntniß a priori befindet“.[71] Abschließend der Schrift wird durch präzierte Begriffskonjunktionen deutlich gemacht, dass „die mathematisch-mechanische Erklärungsart“ andere Kompetenzen hat als „die metaphysisch-dynamische“; redet man von physikalischen Körpern und leeren Räumen, kann man mit mathematischen Evidenzen operieren; redet man aber von Grundkräften der Materie, befindet man sich jenseits aller Möglichkeiten der Mathematik.[72] (Und nicht nur der Mathematik.) Werkschließend werden die Unterschiede der Methode bekräftigt. Mathematik zähle nicht zur Transzendentalphilosophie,[73] aber zur metaphysisch begründeten Naturwissenschaft.[74]
Alle Zeitgenossen unterscheiden selbstverständlich zwischen der Mathematik als quantifizierender Disziplin und der auf Qualitäten bezogenen Philosophie.[75] Auch Kant lehrte Mathematik als Messkunst,[76] und auch Kant trennt zwischen extensiven und intensiven Größen. Jene seien zählbare Quanta, diese seien bezogen auf eine Einheit und einen Grund. Eine Empfindung sei eine intensive Größe; und es müsse „allen Objekten der Wahrnehmung, so fern diese Empfindung enthält, intensive Größe, d. i. ein Grad des Einflusses auf den Sinn, beygelegt werden“.[77] Er lehnt aber die grundsätzliche Einteilung in Quantität und Qualität werkschließend ab,[78] nachdem er sie im Werk hypothetisch nutzt. Kant bestimmt die Philosophie als „Wißenschaft des Genies“,[79] nicht des Mathematikers. Ziel der Philosophie sei die umfassende Deutlichkeit im Sinne einer logischen und zugleich ästhetischen Vollkommenheit der Erkenntnis,[80] was besonders Logik zum Gegenstand hat. Auf das Ganze des kantischen Vorhabens gesehen sei erst der reine Teil der Metaphysik: die transscendentale Philosophie, und dann ein auf Konkreta der Anschauung und Empfindungen bezogener Teil vorzulegen.[81] Denn erst Darstellung ermögliche Begriffen objektive Realität;[82] ihre logische Funktion in Form bildlicher Vorstellungen sei es, abgezogene Begriffe „zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen“.[83]
2. Details der ersten, im Druck 1749 abgeschlossenen, Schrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibnitz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen
In Kants Werk, auch bereits in der ersten Schrift, ist sowohl die Nähe zu, als auch die Auseinandersetzung mit Leibniz prägend.[84] Teils umfasst dies Polemik. Laut Leibniz kommt lebendige Kraft nur wirklichen Bewegungen zu. Kant tadelt den Begriff der wahren oder wirklichen Bewegung, wie ihn Leibniz, Wolff oder Newton verwenden.[85] Leibniz verbindet den Beginn einer Bewegung mit dem Begriff der Realität.[86] Metaphysisch betrachtet ist in dem Streben zu einer Bewegung, im conatus oder nisus, bereits die Seinsfülle der daraus hervorgehenden wirklichen Bewegung enthalten. Real sei also das Moment des Strebens, in dem der Umschlag von toter Kraft, die sinnlich nicht wahrnehmbar ist, „aus unendlich vielen fortgesetzten Einprägungen“ zur lebendigen Kraft geschieht, die mit „wirklicher Bewegung verbunden“ ist.[87] Beim Stoß sei nun, so Leibniz, „die Kraft lebendig, aus unendlich vielen fortgesetzten Einprägungen der toten Kraft entstanden“.[88] Leibniz spricht von vis viva bei bewegten,[89] von vis mortua bei ruhenden Körpern, die eine Bestrebung zur Bewegung haben.[90] Beide verhielten sich zueinander wie Linie und Punkt oder wie Ebene und Linie.[91] Auch etwa Johann Bernoulli erörtert, wie sukzessiv eine lebendige aus einer toten Kraft hervorgebracht wird.[92] Kant aber kritisiert, es sei unmöglich, durch Addition unendlich kleiner Größen in einer endlichen Zeit eine quantifizierbare, endliche Größe zu bilden.[93] Und daher könne aus toten Kräften in einer endlichen Zeit keine lebendige Kraft werden. Kant konfrontiert die Vorstellung der Leibnizianer, lebendige Kräfte entsprächen wirklichen Bewegungen, tote Kräfte entsprächen Körpern in Ruhe, mit der Frage, wie denn aus einer toten Kraft innerhalb einer endlichen Zeitspanne eine lebendige Kraft werden könne. Dazu bedient er sich in einer längeren polemischen Passage[94] des Ausdrucks der Vivifikation, den er aus der protestantischen Theologie übernimmt,[95] und mit dem er die Wandlung einer toten zu einer lebendigen Kraft karikiert. Diese Passagen zur ‚Vivifikation‘ sind Kant als misslungener Versuch angerechnet worden.[96]
Die erste Schrift Kants enthält noch etliche weitere polemisch-ironische Passagen; in der Regel bemerkt man diese ohne Weiteres aufgrund der Wortwahl, wenn etwa die Rede von ‚wunderbar‘, ‚paradox‘ oder ‚leicht‘ ist. im Folgenden werden einige Ausschnitte zitiert.
§. 6 „Eine gleiche Schwierigkeit äussert sich, wenn die Frage ist, ob die Seele auch im Stande sey die Materie in Bewegung zu setzen. [...] Eben so leicht ist es auch die Art vom paradoxen Satze zu begreifen, wie es nemlich möglich sey: daß die Materie von der man doch in der Einbildung stehet, daß sie nichts als nur Bewegungen verursachen könne, der Seele gewisse Vorstellungen und Bilder eindrücke. [...].“
§.7 „[...] so ist es wohl möglich, daß ein Ding würklich existire, aber doch nirgends in der ganzen Welt verhanden sey. Dieser paradoxe Satz, ob er gleich eine Folge und zwar eine sehr leichte Folge der bekanntesten Wahrheiten ist, ist so viel ich weiß, noch von niemanden angemerket worden. Allein es fließen noch andere Sätze aus derselben Quelle, die nicht minder wunderbar sind, und den Verstand so zu sagen wider seinen Willen einnehmen.“
§.9 „Es ist leicht zu erweisen, daß kein Raum und keine Ausdehnung seyn würden, wenn die Substanzen keine Kraft hätten ausser sich zu würken. Denn ohne diese Kraft ist keine Verbindung, ohne diese keine Ordnung, und ohne diese endlich kein Raum. Allein es ist etwas schwerer einzusehen, wie aus dem Gesetze, nach welchem diese Kraft der Substanzen ausser sich würket, die Vielheit der Abmessungen des Raumes herfolge. [...].“
§.122 [hypothet. Prämisse: Ein Körper in Ruhe hat tote Kraft, ein Körper in Bewegung lebendige Kraft, und zwischen beiden besteht gradueller Übergang mit unendlich vielen Zwischengraden]
„[...] Ferner fließet hieraus kraft des Gesetzes der Continuität, daß eben derselbe Körper, der im Anfangsaugenblicke eine todte Kraft hat, und hernach eine lebendige überkommt, die gegen die erstere wie eine Fläche gegen die erzeugende Linie ist, diese Kraft erst in einer endlichen Zeit erlange. Denn, wenn man setzen wollte, er überkomme diese letztere Kraft nicht in einer endlichen Zeit von dem Anfangs-Augenblicke, sondern unmittelbar in dem unendlich kleinen Zeittheilchen nach demselben: so würde dieses so viel sagen, daß er in dem Anfangsaugenblicke selber die lebendige Kraft schon habe. Denn das Gesetz der Continuität, und selbst die Mathematik, beweiset, daß es einerley sey, ob ich sage der Körper befinde sich im Anfangs-Augenblicke seiner Bewegung, oder in dem unendlich kleinen Zeittheilchen nach demselben. Nun ist aber die Kraft in dem Anfangs-Puncte der Bewegung selber todt: also kann man, ohne einen Widerspruch zu begehen, nicht sagen, daß sie hernach lebendig sey, als wenn man zugleich festsetzet, daß diese lebendige Kraft in ihr allererst nach einer endlichen Zeit, nach der Wirkung der äusserlichen Ursache, in ihr angetroffen werde. /Die Naturkraft des Körpers setzet nemlich den von draussen empfangenen Eindruck in sich selber fort, und indem sie, durch eine fortgesetzte Bestrebung, die Intension, die vorher wie ein Punct war, in sich häufet, bis sie wie eine Linie wird, die der von draussen in sie erregten Kraft, die sich wie die Geschwindigkeit verhielte, proportional ist, so häufet sie hiedurch die von draussen erlangte Kraft selber, welche vorher auch nur wie eine Linie war, daß sie jetzo wie eine Fläche ist, in der die eine Seite die äusserlich ertheilte Geschwindigkeit und Kraft vorstellet, die andere aber, die aus dem inneren des Körpers von selber erwachsene Intension vorbildet, die jener proportional ist.“
§.123 „Denjenigen Zustand, da die Kraft des Körpers zwar noch nicht lebendig ist, aber doch dazu fortschreitet, nenne ich die Lebendigwerdung, oder Vivification derselben. In der Zwischenzeit also, darinn die Kraft sich zur lebendigen erhebet, welche zwischen den beyden Puncten, dem Anfangs-Puncte, und demjenigen, da die Kraft schon völlig lebendig ist, begriffen wird, hat der Körper noch nicht seine Kraft und Geschwindigkeit in sich selber hinlänglich gegründet. Hie wird es vielleicht meinem Leser einfallen zu fragen, wie denn der Körper in dieser Zwischenzeit im Stande sey, seine ihm ertheilte Geschwindigkeit frey und einförmig zu erhalten und fortzusetzen, da er doch alsdenn seine Kraft und Bewegung in sich selber noch nicht hinlänglich gegründet hat, und folglich sie auch nicht selber erhalten kan. Hierauf antworte ich: die Kraft ist in dieser Zwischenzeit zwar freylich nicht so beschaffen, daß sich aus ihr eine immerwährend freye und unverminderte Bewegung verstehen liesse, wenn sie nicht durch die innere Bestrebung noch weiter erhoben würde. Allein ob die Bestrebung der Kraft sich zu erhalten in dieser Art unvollständig ist, davon ist hie nicht die Rede. Es frägt sich nur: ob die Intension der Kraft, die noch nicht so weit erwachsen ist, daß sie die Bewegung unvermindert und unaufhörlich erhalten könne, doch wenigstens sie diejenige Zeit hindurch erhalten könne, die bis zur vollendeten Vivification nöthig ist. Daß dieses aber nicht allein möglich sey, sondern sich auch in der That so verhalte, erhellet hieraus, weil in dieser ganzen Zwischenzeit, jeden Augenblick ein neues Element der Intension in dem Körper entspringet, welches die gegebene Geschwindigkeit ein unendlich kleines Zeittheilchen erhält, folglich alle die Elemente dieser Intension, die die ganze Zwischenzeit in dem Körper entspringen, in allen Augenblicken derselben, das ist in der ganzen Zeit, dieselbe Geschwindigkeit erhalten, [...].“
§. 131. „[...] Ich bin in dem Besitze, einige Gesetze darzulegen, nach denen die Vivification oder Lebendigwerdung der Kraft geschiehet, allein, da diese Abhandlung den ersten Plan dieser so neuen und unvermutheten Eigenschaften der Kräfte zu entwerfen bemühet ist, so muß ich mit Recht besorgen, daß meine Leser, die vornemlich begierig sind von dem Hauptwesen gewiß gemacht zu werden, sich mit Verdruß in einer tiefen Untersuchung einer Nebensache verwickelt sehen möchten, zumal, da es Zeit genug ist, sich darinn einzulassen, wenn das Hauptwerk erstlich genugsam gesichert, und durch Erfahrungen bewähret ist. [...].“
Fazit
Wenn das skizzierte Frage- und Antwort-Spiel Philosophie in einer Weise ausmachen soll, dass Menschen über Zeiten hinweg und über akademische, disziplinäre und andere Gruppenbildungen hinaus gemeinsam das Denken und Nachdenken erproben und üben können, dann wäre das eine Sache, die Kreise ziehen könnte; mit der man es schaffen könnte, die Aufklärung in der Welt zu realisieren. Man stelle sich vor, philosophische Texte und Themen würden nicht ausschließlich innerhalb zuständiger Fachkreise verhandelt, man stelle sich vor, das Denken würde auf den Straßen ankommen – für die Philosophie und sicherlich darüberhinaus wäre das ein großer Gewinn.
[1] Auf Einladung der preussischen Prinzessin Sophie Charlotte hatte in Berlin ein Streitgespräch zwischen Toland und Isaac de Beausobre, einem Berliner Theologen, stattgefunden, der dies in Bibliothèque germanique, Bd. 6 (1723), 39-50, veröffentlichte. Auch hier verfuhr Toland, indem er den Gegner in skizzierter Weise irritierte. – Vgl. auch Toland, Vindicius Liberius (London 1702), 3 ff. und 149.
[2] “By involving his counterpart […] in his own techniques of polemic, Toland succeeds in communicating a method rather than a particular position; and he does so by practising the method (in either written or oral form) with his interlocutor” (Stephen Hartley Daniel: The Philosophical Methodology of John Toland. St. Louis, University Press 1977, 291).
[3] Vgl. Roger D. Lund: Ridicule, Religion and the Politics of Wit in Augustan England. Farnham u.a., Ashgate 2012, 146 ff., mit vielen Nachweisen. Spott und Ironie würden für verwerfliche Zwecke genutzt, seien aber trotzdem, wie etwa Blair betont, richtig angewandt von großem Nutzen für die Moral (Hugh Blair: Lectures on rhetoric and belles lettres. 3 Bde., Dublin 1783, 533 – deutsche Übersetzung: 1785 f.).
[4] Z. B. nach dem Vorbild Lukians als enkomion paradoxon (spielerisches Lob eines gar nicht lobenswerten Gegenstandes), etwa bei Erasmus, in Moriae, der hier die personifizierte Torheit argumentieren lässt. Diese Schrift war seine wohl bekannteste. – Bei „der notorischen Spottlust der Griechen“ findet sich auch schon in der griechischen Antike „eine reiche Kultur satirischer Textformen wie das parodische Epos, der Mimos, die Rhintonica, das hellenistische Schimpfgedicht, die kynische Diatribe u.a.m.“ (Ulrich Knoche: Die römische Satire. Göttingen 1971: 4).
[5] “Hobbes' greatest rhetorical innovation [is] the creation of what we might call a new form of heterodox wit, […]. In a word, Hobbes perfected the witty bite that left his critics uncertain as to whether he was in jest or in earnest” (Roger D. Lund: Ridicule, Religion and the Politics of Wit in Augustan England. Farnham u.a., Ashgate 2012, 31). Besonders die spöttische und witzige Rhetorik im Leviathan wurde seinerzeit hart angegriffen, aber auch bewundert und nachgeahmt: „Writers like Toland or Tindal […] were careful students of this kind of rhetoric” (A. a. O., 35).
[6] Bei Hobbes: “To say that he hath spoken to him in a Dream is no more than to say he dreamed that God spoke to him” (Leviathan, ed. Tuck 1991, 257).
[7] Vgl. Quintillian, Instiutio IX.III.87-88; vgl. Quentin Skinner: Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes. Cambridge, University Press 1996: 416.
[8] Wolfhart Henckmann meint in seinem Aufsatz „Lehren und Lernen der Philosophie: Zur Dialogtheorie bei F. Schlegel, Schleiermacher und Solger“ (in: Helmut Girndt und Ludwig Siep (Hg.): Lehren und Lernen der Philosophie als philosophisches Problem. Essen 1987, 103-160), der Platonismus als der Ur-Grund dialogischen Philosophierens sei durch Shaftesbury in die Neuzeit hinein vermittelt worden, die sich von starren Formen schulphilosophischer Tradition hatte lösen wollen (105).
[9] Gedanken von der Wahren Schätzung der Lebendigen Kräfte (1749), § 90.
[10] Gedanken von der Wahren Schätzung, § 102.
[11] Gedanken von der Wahren Schätzung, § 114.
[12] Gedanken von der Wahren Schätzung, § 150.
[13] Gedanken von der Wahren Schätzung, § 157.
[14] Gedanken von der Wahren Schätzung, § 161.
[15] Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), 233 f. – Ab hier sind alle Angaben auf die Seitenzahlen in den Bänden der derzeit vorliegenden Akademie-Ausgabe (AA) bezogen; die Bandnummern sind nicht genannt.
[16] Himmelstheorie, 234.
[17] Himmelstheorie, 263.
[18] Himmelstheorie, 306.
[19] Fortgesetzte Betrachtung der Erderschütterungen (1756), 469.
[20] Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde (1756), 492.
[21] Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758), 16.
[22] Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759), 34.
[23] Beweisgrund (1763), 67.
[24] Beweisgrund, 145.
[25] Negative Größen (1763), 184.
[26] Negative Größen, 197.
[27] Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), 233.
[28] Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik (1766), 333.
[29] Träume, 348.
[30] Träume, 351.
[31] Träume, 351.
[32] Träume, 357.
[33] Träume, 359.
[34] Träume, 368.
[35] Gegenden (1768), 378.
[36] Gegenden, 383.
[37] Critik der reinen Vernunft: Erste Critik A (1781) XV.
[38] Erste Critik A XVII. – Die erste Kritik wird nach den Originalen zitiert.
[39] Erste Critik A XXI.
[40] Erste Critik A 88 B 121.
[41] Erste Critik A 292 B 282.
[42] Erste Critik B (1787), 293.
[43] Erste Critik B 428.
[44] Erste Critik A 609 B 637.
[45] Erste Critik A 750 B 778.
[46] Erste Critik A 856 B 884; letzter Satz des Werks.
[47] Prolegomena (1783), 274.
[48] Prolegomena, 277.
[49] Prolegomena, 277 f.
[50] Prolegomena, 342.
[51] Prolegomena, 347.
[52] Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (1783), 13.
[53] Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), 391.
[54] Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), 547.
[55] Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), 110.
[56] Critik der practischen Vernunft: Zweite Critik (1788), 8.
[57] Zweite Critik, 141.
[58] Ueber den Gebrauch teleologischer Principien (1788), 167.
[59] Critik der Urtheilskraft: Dritte Critik (1790), 320.
[60] Dritte Critik, 323.
[61] Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Des Grafen von Schaftesbury philosophische Werke, Leipzig 1776-1779, Band III, 361 f., hier: 364 f.
[62] Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. Jürgen Mittelstraß. Stuttgart 1995, Bd. 3, 254-264, hier: 255.
[63] Andreas Eckl: „Platons letzte Prinzipien“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65/6 (2017), 1084-1108.
[64] Andreas Eckl, a. a. O., 1086.
[65] Andreas Eckl, a. a. O., 1087.
[66] „Da der Begriff […], so wie er gegeben ist, viel dunkele Vorstellungen enthalten kann, die wir in der Zergliederung übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung jederzeit brauchen: so ist die Ausführlichkeit der Zergliederung meines Begriffs immer zweifelhaft und kann nur durch vielfältig zutreffende Beispiele vermuthlich, niemals aber apodictisch gewiß gemacht werden. Anstatt des Ausdrucks: Definition, würde ich lieber den der Exposition brauchen, der immer noch behutsam bleibt“ (Erste Critik A.728 f.B.756 f.). Das heißt, dass „in der Philosophie die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen als anfangen müsse“ (Erste Critik A.730 f. B.758 f.). „Niemals muß man in der Philosophie die definition zu früh schlüßen […], denn dieses verhindert den Weg zur Erkenntniß der Sache, ehe ich die definition schlüße, muß ich noch lange den Begrif analysiren, und mein Urtheil noch aufschieben, damit ich unter der Zeit vielleicht noch eine Ausführlichere Erkenntniß vom Object erlange“ (Logik Blomberg, 272).
[67] Es folgen hier Auszüge aus: Kants Gesamtwerk in neuer Perspektive.
[68] Crusius, Metaphysik, § 234; Logik, §§ 9f. – Reimarus, Vernunftlehre, 1. Aufl (1756): § 216; 3. Aufl. (1766): § 338.
[69] Vgl. Erste Critik B.163 ff.; Prolegomena, 295 f.
[70] Pierre Gassendi, Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos, in quibus praecipua totius doctrinae peripatetica atque dialecticae fundamenta excutiuntur, opiniones vero aut novae, aut ex veteribus obsoletae, stabiliuntur; Teil 1: In doctrinam Aristoteleorum universe, Grenoble 1624; Teil 2: In dialecticam Aristoteleorum, Lyon 1658; Liber primus, # 6 (in: Opera omnia, Lyon 1658, III, 107a-108a).
[71] Metaphysische Anfangsgründe, 470.
[72] Metaphysische Anfangsgründe, 524 f. (Allgemeine Anmerkung).
[73] Sofern diese „die sich selbst zur Erkentnis der Objecte des Denkens vorübende Wissenschaft“ ist, die „das Formale des Denkens a priori im Ganzen des Systems“ darstellt (Opus postumum, I.8).
[74] Bezogen auf das „Ganze der Natur in so fern es a priori dem Formale nach vorstellbar ist“, gehört aber Mathematik „selbst zur Philosophie“ (Opus postumum, I.158).
[75] Vgl. Martin Krieger: Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius. Erkenntnistheorerisch-psychologische, kosmologische und religionsphilosophische Perspektiven im Kontrast zum Wolffschen System, Würzburg 1993, 58f., mit Verweis auf Adolph Friedrich Hoffmann, Vernunft-Lehre, Darinnen die Kennzeichen des Wahren und Falschen Aus den Gesezen des menschlichen Verstandes hergeleitet werden, Leipzig 1737, §§ 13-21.
[76] „Die Mathematik ist eine Wißenschaft, die Größen der Dinge auszumessen, oder wie viel mal etwas in einem Dinge gesetzt sey. […] Das Maas der Größe (Vielheit) ist die Einheit, oder Eins“ (Mathematikvorlesung Herder, 49). – Christian Wolffs Anfangsgründe und ein Auszug daraus dienten als Vorlage für Kants Vorlesungen; vgl. Gottfried Martin: Arithmetik und Kombinatorik bei Kant, Berlin u.a. 1972, 12 f., eine Liste Liste der Mathematik- und Physikvorlesungen Kants gibt. Kant las von 1755 bis 1763 über Mathematik, reine Mathematik, Trigonometrie, Mechanik, Hydrostatik, Hydraulik und Aerometrie, von 1763 bis 1788 über theoretische Physik.
[77] Erste Critik B.208.
[78] Logik, 23.
[79] Anthropologievorlesung Friedländer, 556.
[80] „Noch nie hat jemand das rechte Maß der Aesthetischen Vollkommenheit accurat mit der Logischen verbinden, bestimmen und ausfindig machen können“ (Logikvorlesung Blomberg, 45).
[81] „Der erste Theil der Metaphysic ist […] die ganze Bestimmung unsrer reinen Vernunft, die Bestimmung ihrer Natur, und der Grenzen ihres Vermögens. Diesen Theil kann man die transscendentale Philosophie oder die Kritic der reinen Vernunft nenne, wo die Vernunft ihr eigen Object ist. Man könnte diesen Theil überhaupt Metaphysicam puram nennen“ (Metaphysikvorlesung Volckmann, 360).
[82] Der Schematismus ermöglicht Begriffe der Sinnlichkeit, die Symbolisierung Begriffe des Übersinnlichen; vgl. z. B. Fortschritte, 613.
[83] Kant, Was heißt: Sich im Denken orientiren?: 133. Es geht hier gegen Mendelssohns „Gemeinsinn“ oder „gesunde Vernunft“ oder „schlichten Menschenverstand“ (Denken, 134) und zwar gegen dessen Ungenauigkeiten im Gebrauch der Begriffe.
[84] Vgl. Gedanken über die Wahre Schätzung, § 17, Anm.; § 23; § 26; § 163 und passim; Monadologia; Optimismus; Träume, 328, Anm.; CrV B.293; A.263-276.B.319-332; A.812.B.840; Ueber eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, Fortschritte.
[85] Gedanken über die Wahre Schätzung, §§ 26 ff.; 51; 163; Lehrbegriff, 21; Metaphysische Anfangsgründe, 486. – Vgl. z. B. Leibniz, Briefwechsel, fünfter Brief an Clarke.
[86] Specimen dynamicum, I.1: Nichts in der Bewegung sei „real außer jenes Momentane, das in einer zur Veränderung drängenden Kraft bestehen“ muss. – Nihil in motu „reale est, quam momentaneum illud, quod in vi ad mutationem nitente constitui debet“ – übersetzt von Hans Günter Dorsch in seiner Ausgabe, Hamburg 1982.
[87] Der momentane Antrieb (Impetus) rechnet sich auf zur Geschwindigkeit; das Inkrement des Zuwachses addiert sich aus unendlich vielen Antrieben (Specimen dynamicum I.4 und 5). Zeit ist für Leibniz aber keinesfalls real, da sie niemals als Ganzes existiere: Zeit „existiert niemals […], da sie niemals als Ganzes existiert, weil sie keine koexistierenden Teile hat. Und daher ist nichts in ihr real außer jenes Momentane, das in einer zur Veränderung drängenden Kraft bestehen muß“ (Specimen dynamicum I.1).
[88] Leibniz, Specimen Dynamicum, I.6: “Sed in percussione […] vis est viva, ex infinitis vis mortuae impressionibus continuatis nata”.
[89] Die vis activa sei entweder primitiva: die der Seele oder der substantiellen Form, oder derivativa: aus bestimmten Zusammenwirkungen zwischen Körpern entstanden (Specimen dynamicum I.3).
[90] Die tote Kraft sei z. B. Schwerkraft oder die Spannung elastischer Körper (Specimen dynamicum, I.6).
[91] Die tote Kraft sei mathematisch, die lebendige real, physikalisch. Vgl. auch Leibniz, Brevis demonstratio.
[92] Johann Bernoulli: Discours sur les loix de la communication du mouvement (Paris 1727), Opera omnia III, 7-107; z. B. 37.
[93] Gedanken über die Wahre Schätzung, §§ 25 f.; 113.
[94] Gedanken über die Wahre Schätzung, §§ 123-135.
[95] Hier bezeichnet vivificatio einen Aspekt der Erneuerung des Menschen im Anschluss an die Buße; vgl. Melanchthon, Apologia, Artikel XII (Confessio fidei exhibita invictiss (mit Apologia Confessionis Augustanae), Wittenberg 1531 – deutsch: 1531).
[96] Vgl. exemplarisch Martin Schönfeld: The philosophy of the Young Kant. The Precritical Project, Oxford 2000, 53: „The theory of vivification is sheer fantasy“.