Über die Vergiftung skeptischen Denkens durch die Romantik
Zusammenfassung: Die Wirkmächtigkeit der Auffassungen der Romantiker über Ironie prägt bis heute grundlegend unsere Einschätzung rhetorischer Mittel zur Beförderung von Argument und Geltungsprüfung; da dieses Verständnis absolut unangemessen und philosophisch unzumutbar ist, kann metaphorisch von einer Vergiftung philosophischen Denkens gesprochen werden. Dem sollte dringend entgegengewirkt werden. Hier wird es versucht, indem die Bedeutung des Spielens und des Rätsellösens für das Philosophieren, bei Kant sowie ganz allgemein, hervorgehoben wird.
Je nachdem, welche logischen und methodischen Grundlagen gelten, spielt skeptische Ironie eine Rolle oder keine Rolle für die Philosophie. Aber ganz gleich, wie es sich jeweils verhält: philosophische (skeptische) Ironie ist nicht zu trennen von dem, was wir als <Ernst> einer Aussage auffassen; Philosophie ist ja nicht Herumalbern. Nur dann, wenn eine ironische Aussage <ernst> genommen wird, kann sie überhaupt funktionieren, nur dann gelingt das Spiel, das dahintersteckt: ein performatives Infragestellen von Gewissheiten zum Zweck des im Denken hinzulernenden Denkens.
Historischer Überblick
Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert, etwa in Schriften Friedrich Schlegels, formieren sich philosophisch-literarische Ansätze, die bei der Genie-Ästhetik ansetzten und die Romantik einläuteten. Das Streben nach begrifflicher Klarheit und der Anspruch, streng logisch-argumentativ arbeiten zu wollen, wurde, augenscheinlich ohne Bedauern, verabschiedet; in den Vordergrund tritt die Beschäftigung mit schöner Literatur im weitesten Sinne, teils auch inspiriert durch profunde Kenntnisse der antiken Literatur.
Diesem Drang und dieser Zeit entspringt das, was man „romantische Ironie“ nennt. Da diese im Grunde ausschließlich auf Poesie und Prosa bezogen ist, auf Drama, Erzählung, Lyrik, sollte sie eigentlich gar keinen direkten Einfluss auf philosophische Arbeiten haben – den hatte sie aber leider, und zwar in nicht geringem Ausmaß. Das liegt natürlich daran, dass insbesondere Schlegel nicht präzise zwischen Philosophie und schöner Literatur trennt; er spricht von einer „Universalpoesie“ und denkt in diesem Sinne Autoren nicht als planvoll vorgehende ‚Arbeiter‘ am Begriff oder am Gedanken, sondern als intuitive, durch spontane Inspirationen und Eingebungen beflügelte Genies.
Das hatte alles bereits unter Zeitgenossen seine Faszination, und diese wurde sicherlich dadurch befördert, dass man sich, in Berlin oder Jena, in größeren Kreisen zusammenfand, teils auch gemeinsam lebte. Diese Romantikerkreise übten große Anziehung auf die Gesellschaft ihrer Zeit aus, und sie hatten einen bemerkenswerten Nachhall in der Ideengeschichte. Das liegt, so möchte ich behaupten, auch daran, dass sie gewagte Romane zusammenkleisterten und ihr schwärmerisches Ausleben von Freundschaft manches Mal die Grenze zur Erotik und freien Liebe überschritt. Es wurden Zeitschriften gegründet, in denen man sorglos dies und das schreiben und unter ein größeres Volk bringen konnte – und alles in allem konnte man auf diese Weise viel lauter und bunter klappern, als die Gelehrten und Philosophen noch kurz zuvor es vermocht (und vermutlich gewollt) hatten. Begrifflich setzte man allerdings durchaus bei den vorangegangenen Autoren an, bei Kant, Fichte oder Schiller, und bei Konzepten wie Subjektivität, Objektivität, Transzendentalphilosophie.
Aus der großen Fülle von Aspekten im Denken der Romantiker und ohne in jedem Detail auf die Unterschiede der Ansätze und Denkformen verschiedener Autoren eingehen zu können, soll im Folgenden ausschließlich die Ironie interessieren.
Im Historischen Wörterbuch der Rhetorik stammt der Artikel ‚Ironie‘ von Ernst Behler, einem Schlegel-Forscher.[1] Diese Tatsache kann als paradigmatisch dafür angesehen werden, dass von 1800 bis heute so gut wie alle Beschäftigung mit der Ironie (es sei denn, jemand untersucht ausschließlich die platonische Philosophie) genau dort ansetzt: bei den Vorstellungen der Romantiker, an die sich vergleichsweise nahtlos die schneidende Kritik Hegels, die existenzphilosophischen Überlegungen Kierkegaards und weitere Bearbeitungen anschließen. Das 19. Jahrhundert, so kann man festhalten, arbeitete sich an einer „Ironiedebatte“ ab, die mit Nietzsche zu ihrem Abschluss kam;[2] nachfolgende Fragen und Ansätze nehmen stets ebenda ihren Anfang: bei Schlegel oder eben bei dem Antipoden Hegel.
Von meiner Warte aus gehört die Ironie, um die es hier gehen soll, zu skeptischem philosophischem Denken, und zwar als Mittel, eine bestimmte zusätzliche Ebene oder Schicht der Reflexion und Infragestellung einzuziehen. Dieses Mittel kann man natürlich als rhetorisches Mittel auszeichnen. In heutiger Zeit ist mit dieser Zuweisung aber leider eine gewisse Abwertung verbunden, weil man mit Rhetorik keine tiefgründigen systematischen Absichten mehr verbindet, und folglich ist uns das Bewusstsein darüber abhanden gekommen, dass ‚skeptische Ironie‘ ein Mittel ist, methodologische Fragen auf eine Weise an den Text zu richten, die diesen nicht langweilig, sondern spannend, witzig, anregend werden lässt.
Das, was ich also ‚skeptische Ironie‘ nenne, erlebte innerhalb der neuzeitlichen Ideengeschichte folgenden Werdegang: zuerst wird sie von strenger, am Begriff arbeitender Philosophie abgetrennt – das geht aus von den Romantikern und kulminiert in Hegels Aversion gegen Ironie. Ironie ist infolgedessen, und zwar durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch, bestimmt als ‚Verstellung‘, Negation der Wahrheit oder: der Identität; kurz: als Negativität in Reinform.[3] Zugleich wird sie mystifiziert und damit in eine Schwammigkeit verbannt, in der man sie nicht mehr wirklich hinreichend begrifflich bestimmen kann. Außerdem hat sie ihren Wirkungsbereich zunehmend in der Literatur und kaum mehr in der Philosophie. Dass sich eine große Zahl der PhilosophInnen jenes Jahrhunderts in einem ganz grundsätzlichen Sinne an exakten Wissenschaften, etwa der Mathematik und manchen Naturwissenschaften orientierte, das verhalf skeptischer Ironie natürlich nicht zu einem besseren Status. Und die Fundierung der Phänomenologie im radikalen cartesischen Zweifel versetzt ihr dann endgültig den Stoß, durch den sie ins Koma fiel.
Denn cartesisches skeptisches Denken feiert skeptische Denkstrategien ja nicht, sondern sucht eben durch die Aufhebung des radikalen Zweifels ein Fundament für größtmögliche Gewissheit zu finden: Gedanken in der Schwebe zu halten, sie von verschiedenen möglichen Seiten oder aus verschiedenen Blickweisen zu untersuchen, dabei immer wieder sich selbst und andere zu hinterfragen hinsichtlich der Grundlagen wie auch der Ergebnisse des Denkens, deren Geltungsansprüchen oder den Möglichkeiten, sie argumentativ abzusichern – das ist die Sache Descartes‘ nicht und auch nicht derjenigen, die sich in ihren Prinzipien auf ihn berufen.
Diese späte Geschichte eines gewissen Niedergangs stimmt gut zusammen mit antiken Abwertungen skeptischer Ironie, etwa bei Theophrast. Den ‚Ironiker‘ bestimmt Theophrast – ähnlich öde wie Hegel, nur viel moralinsaurer – als Typus eines Wolfes im Schafpelzes, eines durchtrieben schlauen Fuchses, eines der Verstellung, aber nicht der Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit fähigen ‚Blenders‘.
Vor den Romantikern und nach Theophrast hat es aber natürlich ironisch geschriebene skeptische Texte gegeben, und diese stammten nicht von Autoren, die die methodische Rolle der Ironie und ihre methodenreflexive Bedeutung für den Gedanken, mit dem sie verknüpft wird, mit 'Verblendung‘ oder ‚Verstellung‘ gleichsetzen würden. Diese Autoren orientierten sich in aller Regel an Sokrates resp. Platon, und dieser Traditionslinie zurechnen würde ich alle Texte, die in einer feingeistigen, selbstreflexiven, witzigen und mindestens doppel-, wenn nicht mehrbödig-klugen Weise konzipiert sind, ganz gleich, aus welchem Jahrhundert sie stammen. Beispiele? Unter anderem zu nennen wären Seneca, Abaelard, Erasmus von Rotterdam, Melanchthon, Montaigne, Hobbes, Gassendi, Bayle, Pope, Hume, Rousseau, Diderot, und allen voran natürlich Shaftesbury. Entscheidend ist dabei immer auch: ihre Autoren gehen nicht her und erklären die ironischen Passagen den LeserInnen; vorausgesetzt wird, dass diese die Ironie schon bemerken werden.
Durch die infolge der skizzierten Theoretisierung von Hegel bis Nietzsche entstandene Gegenüberstellung von Verstellung und Wahrheit, von Trug und Aufrichtigkeit wurde im 19. Jahrhundert erneut die sehr wirkmächtige Idee einer Unversöhnlichkeit von beidem propagiert: eine moralische Absonderung beider Haltungen, die vor diesem Hintergrund nicht länger als zwei Seiten einer Medaille gelten konnten, sondern zwischen denen eine tiefe Kluft behauptet wurde. Angefangen hatte damit Aristoteles.[4] Ironie und Wahrheit, oder stilistisch gesehen treffender: Ironie und Ernst wurden einander also auch im 19. Jahrhundert – oder besser: seit dem 19. Jahrhundert – antipodisch gegenübergestellt. Die unüberwindliche Kluft zwischen ihnen wurde rückübertragen auf vorige Zeiten. Auch auf Kant. Kant hatte man natürlich aufgrund seiner streng prinzipienbasierten Moralphilosophie auf die Seite der Haltung unbedingter Wahrheit und Aufrichtigkeit zu stellen; und da sich Ironie und Ernst/Wahrheit ausschließen, folgte: es ist undenkbar, bei Kant Ironie/skeptische Ironie zu finden.
Spielen auf dem Instrument oder Reden über das Instrument?
Nun, ich würde sagen: das Gegenteil ist der Fall: Kant, Platon sowie eine Reihe von Autoren der Renaissance und frühen Neuzeit sind in meinen Augen die wirklich skeptische Ironie beherrschenden Philosophen, was man daran merkt, dass sie nicht darüber poetisieren oder theoretisieren mussten, sondern das Instrument schlicht zu spielen vermochten.
Das Poetisieren[5] und Theoretisieren über Ironie, wie es das 19. Jahrhundert prägte, ist in Stil und Ansatz absolut humorlos und bestürzend langweilig. Ironie wird auf der Werkbank großspuriger Begriffe wie Identität und Negativität, Subjektivität und Objektivität, eingespannt und tot-untersucht, das ist jedenfalls mein Eindruck. Auf der anderen Seite wird sie, ebenfalls in einem gewissen Sinne „romantisch“ veranlasst, in die Aura mystischer Heiligkeit, in das göttliches Ganze einer concordia oppositorum gefasst – was im Effekt aufgrund der Tatsache, dass man gar nicht konkrete Situationen oder Texte untersucht, in denen Ironie beteiligt ist, sondern in einem metaphysisch-theosophischen Sinne DIE IRONIE als Abstraktum erörtern wollte, auch nicht besser ist.
Philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, obwohl (oder besser: weil??) letztlich auf Schlegel (oder auch Schleiermacher) fußend, hat Ironie nicht in ihrer reflexiven Funktionalität verstanden und sie daher nicht bewahrt, sondern verloren.[6]
Was ist unter ‚reflexiver Funktionalität‘ zu verstehen? Nun, Ironie sollte man als radikalste Ermöglichung jeglichen ‚Nachvollzugs‘ im Denken sehen: ein Gedanke, ein Thema, eine Behauptung, eine Theorie werden aus der sonst üblichen eindimensionalen Direktheit normaler Präsentationsweisen herausgeholt und in ein Prisma aus Horizonten, Auffassungsmöglichkeiten oder hypothetischen Erwägungen möglichen Wissens gestellt, und Teil dieses Prismas sind immer die Auffassenden und Diskutierenden selbst. Skeptische Ironie spielt sich auf mehreren Ebenen ab (das haben natürlich auch ihre Theoretiker gesehen), allerdings sind es nicht nur die Ebene des Textes und die des Autors, der sich in welcher Form auch immer selbst in die Texte einschaltet, sondern es sind mehr als diese, und im Grunde ist die Rede von ‚Ebenen‘ auch nicht recht passend: Ferdinand Wagener spricht in seiner Dissertation Die romantische und die dialektische Ironie von einem entstehenden „Fluidum“ (1), von einer ‚ur-dialektischen‘ Bewegung, in die das Denken gerät, wenn ironische Äußerungen im Kontrast zu den Erwartungen beim Lesen oder Zuhören stehen, wenn Sprache und Sinn zwischen Verbergung und Offenlegung hin- und herwechseln.
Ich würde die Analysen zur Ironie des 19. Jahrhunderts (in den engen dichotomischen Grenzen von Identität/Negation oder Ernst/Spaß) mit dem Vorschlag ablösen, dass man philosophische, skeptische Ironie in ihrer reflexiven Funktionalität am besten vor dem Hintergrund eines Vergleichs mit Bewegungen in einem Spiel analysiert. Was ist damit gemeint? Etwa bei einem Ballspiel oder bei einem Schachspiel oder bei einem musikalischen Zusammenspiel entsteht allgemein gesprochen eine charakteristische Bewegtheit, die von verschiedenen Ausgangsbedingungen abhängig ist (von den SpielerInnen, ihrer Zahl, den Regeln und anderen zufälligen Rahmenbedingungen). Allen solchen Spielen gleichermaßen kommt zu, dass die Beteiligten explizit oder implizit für die Dauer des Spiels Abreden treffen und in dem geschützten Rahmen dieser Abreden dann auch sofort entscheiden können/wissen können, ob ein bestimmtes Ereignis konform mit der normativen Welt dieses Spiel-Raums ist oder nicht, und auch wissen, wie im Falle einer Nichtkonformität zu verfahren ist.
Übertragen auf philosophische Ironie: zunächst braucht es einen Gegenstand, ein Thema – davon hängt alles Weitere wesentlich ab, und deshalb ist es auch überhaupt nicht ertragreich, „die Ironie“ kategorial analysieren zu wollen. Um diesen Gegenstand entspinnt sich nun durch das Zusammenwirken mehrerer möglicher Auffassungsweisen (die VertreterInnen müssen nicht physisch oder namentlich anwesend sein) ein Geben und Nehmen von Überlegungen – im Sinne platonischer Dialektik. Die Tatsache, dass das Meiste daran primär dialogisch ist, rechtfertigt allerdings in keiner Weise, dass man sie – mit Aristoteles – für ‚unwissenschaftlich‘ ausgibt.[7]
Im Gegenteil: über die in einem von vorne bis hinten logisch ordnungsgemäßen Verfahren gerechtfertigt errungenen Resultate kann man eben jederzeit ein weiteres problematisierendes Verfahren dialektischer Art eröffnen, nämlich etwa dann, wenn man der Meinung ist, bestimmte Präsuppositionen, also für jenes Verfahren methodisch vorausgesetzte Arbeitsbedingungen, könnten angreifbar sein oder sollten diskutiert werden. Das ist vielleicht ärgerlich, kann auch nervig sein, lässt auch in der Tat manche Prozesse nicht in der gewünschten Zeit zu einem Ergebnis oder Erfolg kommen – aber niemals wird man das ‚unwissenschaftlich‘ nennen können.
Wenn man sich nun die Gegenstände der Philosophie ansieht, so sind die allermeisten von ihnen über die Jahrhunderte Auslöser kontroverser Betrachtung und Bearbeitung geworden. Philosophische Gegenstände stehen insofern als solche immer schon in einem oben als Prisma bezeichneten Kontext an Horizonten, Zugängen und Auffassungsmöglichkeiten. Wenn man nun die Bearbeitungen der philosophischen Tradition im Einzelnen kennt und um die teils hochgestochenen Ansprüche weiß, mit denen ihre Vertreter auftreten, als hätten sie und ausschließlich sie die allein seligmachende Lösung einer Frage gefunden, dann gewinnt man bereits dadurch, dass man verschiedene dieser Lösungen in einen Zusammenhang setzt, eine gewisse Vorstellung davon, dass wissenschaftliches, philosophisches Arbeiten – jenseits partieller Zugänge – eine hochkomplexe Sache ist und sich vermutlich eben nicht durch Reduktion und Konzentration auf einen einzigen Ansatz, eine einzige Methode erledigen lässt.
Wenn nun der Zusammenhang, in den man solche Theorien stellt, ein ironischer wäre, dann fragt es sich: kann denn die Ironie überhaupt erkannt werden? Und darf man denn die Philosophie denen in die Hände legen, die das Instrument zu spielen verstehen, aber nicht fortwährend darüber theoretisieren? Denn vielleicht birgt das ja die Gefahr, dass, sollten Präsentationsweisen nicht verstanden werden, auch Inhalte falsch aufgefasst werden. Nun: skeptisches Philosophieren, so groß die Anteile an Irritationen und Rätseln auch sein mögen, kommt durchaus zu Teil- oder Zwischenergebnissen, und spätestens von diesen aus kann man in der Rückschau auch etwas über die Stilmittel lernen, die im Verlauf des Gedankenganges zum Einsatz gekommen sind.
Es stimmt also nicht, was Hegel schreibt, wenn er versucht, aus seiner Warte dialektischer Philosophie jede Ironie, vor allem die sokratische, herabzuwürdigen, wenn er etwa meint, Ironie sei „es mit nichts mehr Ernst, sie macht Ernst, vernichtet ihn aber wieder und kann alles in Schein verwandeln. Alle hohe und göttliche Wahrheit löst sich in Nichtigkeit (Gemeinheit) auf; aller Ernst ist zugleich nur Scherz.“[8]
In enger Verbindung zum Denken Hegels setzt Kierkegaard in seiner Dissertation (1841) an.[9] Er teilt den Begriff der philosophischen Ironie, von dem sie handelt, in Arten ein, die jetzt hier nicht referiert werden können, hebt Ironie von ihrer Funktionalität innerhalb philosophischer Methode ab und macht aus ihr Bewusstseinsformen, die ihm Erscheinungsformen sind, spricht von einer „zweite[n] Potenz der Subjektivität, eine[r] Subjektivität der Subjektivität, entsprechend der Reflexion der Reflexion“.[10] Ganz handfest weist er daraufhin, dass man bitte zunächst den Begriff der Ironie klären sollte: „In der auf Fichte folgenden Periode, in welcher der Begriff der Ironie ganz besonders geltend gemacht worden ist, findet man ihn immer wieder genannt, immer wieder angedeutet, immer wieder vorausgesetzt. Sucht man dagegen eine klare Entwicklung, so sucht man vergebens. Solger klagt darüber, daß A. W. v. Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, allwo man die hinreichende Aufklärung am ehesten erwarten sollte, der Ironie nur flüchtig an einer einzigen Stelle gedenkt. Hegel klagt darüber, daß es Solger ebenso ergangen sei und Tieck nicht besser. Und da alle klagen, warum sollte ich es dann nicht auch tun? Ich klage darüber, daß es Hegel umgekehrt ergangen ist. [...]“. Hegel habe „durchaus nicht wenig über die Ironie gesagt“, aber es sei eben „in einem andern Sinne auch nicht viel; denn er sagt an allen Stellen so ungefähr dasselbe“.[11] Hegel spreche „von der Ironie stets sehr abweisend, die Ironie ist in seinen Augen etwas Widerwärtiges“; sein Tadel an den Schlegel-Brüdern, der „oft etwas Barsches und Schulmeisterliches an sich“ hatte, habe Hegel in gewisser Weise den Blick verstellt und „seiner Erfassung des Begriffs geschadet. Eine wirkliche Darlegung kriegt man meistens nicht – dafür kriegt Friedrich Schlegel stets Schelte“. Hegel habe „sicherlich großen Nutzen gestiftet“ durch den Ernst seines philosophischen Anspruchs,[12] er habe aber dadurch, dass „er sich einseitig wider die nachfichtische Ironie wandte, die Wahrheit der Ironie übersehen“, und „der Ironie Unrecht getan (...), indem er alle Ironie mit der nachfichtischen Ironie gleichsetzte“.[13]
Da auch Kierkegaard Ironie mit ‚Subjektivität‘ verkoppelt und sie dem an Wahrheit und Objektivität orientierten ‚Ernst‘ opponiert, ergeben sich zunächst psychologische Beschreibungen: Ironie mystifiziere Dinge, „um andre dahin zu bringen, sich zu offenbaren“; der Ironiker versuche, „die Umgebung betreffs seiner eigenen Person auf falsche Fährte zu bringen“;[14] die Wirklichkeit verliere „für ihn ihre Giltigkeit, er steht frei über ihr“.[15] Gewiß sei allerdings auch, „daß in der Ironie eine Wahrheit liegt“ (ebd.), und diese bekomme man nur zu fassen, wenn man die Ironie als Standpunkt analysiere, sie in ihrer „angemaßten Totalität“ betrachte.[16] Diese wird „als die unendliche absolute Negativität bezeichnet“ (ebd.). Eine von all diesem Späteren unberührte, sokratische (oder, je nach Perspektive: platonische) Ironie wird bei Kierkegaard so zusammengefasst: „Sokrates ist, wenn er erklärte, nichts zu wissen, gleichwohl wissend gewesen, da er von seiner Unwissenheit ein Wissen hatte, obwohl auf der andern Seite dies Wissen doch kein Wissen von ‚etwas‘ war, das will heißen, keinerlei positiven Inhalt hatte, und insofern also ist seine Unwissenheit ironisch gewesen [...]. Wäre sein Wissen ein Wissen von ‚etwas‘ gewesen, so wäre seine Unwissenheit lediglich eine Form von Gesprächsführung gewesen. Jetzt hingegen ist seine Ironie vollendet in sich selbst. Insofern ist es mithin zu gleicher Zeit mit der Unwissenheit des Sokrates ein Ernst und doch hinwiederum kein Ernst, und auf dieser Spitze muß man Sokrates festhalten. Daß man von seiner Unwissenheit weiß, ist der Anfang zum Wissendwerden; weiß man jedoch nicht mehr, so ist es eben bloß ein Anfang. Dies Wissen ist es, welches den Sokrates ironisch aufrechterhält.“[17]
Kierkegaard wird der methodischen Funktionalität der Ironie in gewisser Weise dort gerecht, wo er von der ‚beherrschten Ironie‘ spricht. Diese „setzt Schranken, verendlicht, begrenzt, und gewährt damit Wahrheit, Wirklichkeit, Inhalt; sie züchtigt und straft und gibt damit Haltung und inneren Zusammenhalt“.[18] „Ironie als ein beherrschtes Moment zeigt sich in ihrer Wahrheit gerade dadurch, daß sie lehrt, die Wirklichkeit zu verwirklichen, gerade dadurch, daß sie den gebührenden Nachdruck auf die Wirklichkeit legt“.[19] Insgesamt ist aber das Problem mit diesen metaphysisch-spekulativen Überhöhungen von Aussagen über „die“ Ironie im 19. Jahrhundert, auch und besonders bei Kierkegaard, dass die Bezogenheit ironischer Verfahren auf konkrete Themen nicht gewürdigt, nicht einmal überhaupt als relevant gesehen wird.
Philosophieren ist Spielen
Im Sinne der Selbstbefreiung aus Bedingungen der Unselbständigkeit, der Unmündigkeit, wie Kant sagt, und also im Sinne der Aufklärung jedes einzelnen Menschen kann eine Philosophie, die Menschen im Denken reicher macht und ihnen hilft, die Welt zu erkennen, human und verantwortungsvoll zu leben und würdevoll zu interagieren, keine sein, die von oben herab dem einzelnen armen Tropf die Weisheit bringt, von der er/sie vorher nicht viel verstanden hat und hinterher auch nicht deutlich mehr, vor der man ihm/ihr aber wenigstens Respekt beigebracht hat. Nein – im Sinne der Aufklärung (und im Sinne Platons) haben alle Tropfe aktiver Teil der Lernprozesse zu sein, und das geht nur, wenn man die Methode anpasst.
Ich halte dafür: Kants Gesamtwerk ist eine fortwährende Abfolge von ‚Spielrunden‘, die, sicher nicht in jedem Detail, aber in den großen Bögen von Anfang an geplant war, und die durchkomponiert ist, man könnte auch sagen: die wie ein Bühnenstück in Szene gesetzt wird. Kant ist der Regisseur, der die bewusste Doppelbödigkeit bestimmter Passagen zum Nutzen der LeserInnen ausgestaltet, damit sie den Nachvollzug des Denkens nicht nur theoretisch (in seiner Möglichkeit) vorgesetzt bekommen, sondern ihn performativ (in seiner Tatsächlichkeit) durchdenken, und während des Denkens sich selbst beim Denken erfahren können.
Kant kombiniert diese dialektische Methode mit einer strikt analytischen bzw. deduktiven Methode und legt so eine inklusive Philosophie, eben auch in diesem Sinne: ein System vor, das es gar nicht mehr nötig hat, sich für Platon oder für Aristoteles entscheiden zu müssen, methodisch gesehen. Die platonisch inspirierte Seite des kantischen Verfahrens tritt erst dann zutage, wenn man die Schriften in einem größeren Zusammenhang versteht und skeptische, rhetorische Strategien des Irritierens, Verrätselns, Ironisierens einrechnet. Da aber auch schon mit Blick auf die platonische Philosophie recht bekannt ist und war, dass „Sokrates mit seinen Gesprächen und insbesondere mit seiner Ironie auch die Absicht verfolgte, das Selbstdenken der anderen zu fördern“,[20] und da Kant in seinem Werk häufiger explizit festhält, er wolle genau das: das Selbstdenken fördern, ist die Nähe zwischen beiden methodischen Ansätzen durchaus greifbar.
In der Philosophie geht es auch immer darum, zu einem gesicherten Wissen zu gelangen, also zum Beispiel falsches von richtigem Wissen unterscheiden zu können; Scheinwissen zu überwinden, Rechtfertigungen zu ersinnen oder zu prüfen. Klarerweise zielen auch Techniken der Ironie auf genau das ab. Sie kommen mit der Absicht zum Einsatz, letztendlich falsches Wissen zu entlarven. Denn die skeptische Ironie wird ja nicht eingesetzt – wie manchmal etwa der Spott – einfach nur um sich lustig zu machen; das Verbergen eines Sachverhalts durch Äußerung des gegenteiligen Sachverhalts soll ja nach bestimmten Durchgängen im Denken, nach einem Hin- und Herüberlegen zu einem Ausweg aus dem Labyrinth, zu einer Auflösung führen, die mit einem Zugewinn an Klarheit, Wissen, Können einhergeht.
Allgemein gesprochen begleiten uns solche Lern-Vorgänge in unserem normalen Leben, seit wir ganz kleine Kinder sind. Sicher haben sie in solchen Kontexten nichts von begrifflich-philosophischen Höhen an sich, sondern dienen dazu, dass wir nicht ein zweites Mal auf Herdplatten fassen, Oben von Unten, Mein von Dein unterscheiden lernen, die Welt benennen und dergleichen mehr Erfahrungswissen ausbilden können. Das Gute an diesen Vorgängen ist, soweit sie in gesunder Weise ablaufen, dass niemand dabei allein ist, sondern wir uns vergewissern können bei einer Person, die mehr weiß als wir und die uns ihr Wissen nicht vorenthält, sondern es gern teilt. Das passiert in im weitesten Sinne dialogischen Situationen, und diese sind desto interessanter und großartiger für uns, je weniger die Person, die über die größere Erfahrung verfügt, uns diese Asymmetrie direkt spüren lässt.
Eine solche, jedenfalls vorgebliche, Augenhöhe meint man auch in den Verfahren bei Platon und bei Kant wiederzufinden. Denn der Einsatz rhetorischer Strategien wie Ironie oder das Stellen einer Rätselfrage setzt ja bei den ZuhörerInnen oder LeserInnen bereits ein bestimmtes Können voraus. Sie werden animiert, es zu erweitern und zu vergrößern, aber ohne den autoritären, erhobenen Zeigefinger einer Lehrperson, sondern im Rahmen eines Umgangs auf einer gewissen Augenhöhe. Man kann daher ganz passend sagen: Autor und LeserIn spielen dasselbe Spiel zusammen; sie befinden sich in einem Raum, in den sie unter der Voraussetzung einer wenigstens ungefähren Kenntnis der zum Spiel nötigen Abreden und Regeln eingetreten sind und in dem sie zusammen eine gewisse Zeit miteinander Umgang haben.
Das Interessante ist, ideengeschichtlich, nun, dass solche spielerischen Auffassungen von dem, was Philosophie ist und kann, ganz offensichtlich unmittelbare Abwehrreaktionen provoziert: nach Platon tritt Aristoteles, nach Kant treten Fichte, Schelling, die Romantiker, Hegel, Schopenhauer und andere auf den Plan.
Das verdankt sich meines Erachtens den Schwierigkeiten, die mit der Frage nach philosophischer Systembildung verbunden sind. Dass skeptische Vorgehensweisen, wie sie etwa in den platonischen Dialogen vorliegen, oder in den Werken Diderots, Gassendis oder Kants, zum Beispiel den Romantikern nur als subjektive philosophische Äußerungen galten, nicht aber als philosophische Systeme, liest man bei Schlegel: „Plato hatte kein System, sondern nur eine Philosophie; die Philosophie eines Menschen ist die Geschichte, das Werden, Fortschreiten seines Geistes, das allmähliche Entwickeln und Bilden seiner Gedanken“.[21] Platon sei „nie mit seinem Denken fertig geworden, und diesen immer weiter strebenden Gang seines Geistes nach vollendetem Wissen und Erkenntnis des Höchsten, dieses ewige Werden, Bilden und Entwickeln hat er in Gesprächen künstlich darzustellen versucht“.[22]
Kant selbst traktiert ja sehr ausgiebig einen Systemanspruch der Philosophie, aber: ganz offensichtlich ist man bereits zu seinen Lebzeiten und erst recht unter den Autoren, die im Jahrhundert nach ihm wirkten, der Meinung, er habe diesen nicht eingelöst. Das Systemziel eines Philosophen besteht durchaus darin, sich ein Thema vorzunehmen, es zu untersuchen, die Untersuchung zu einem Ende zu bringen. Im besten Falle heißt das: eine bestens begründete Theorie vorlegen zu können. Aber das Zu-einem-Ende-bringen ist nur ein Aspekt des Zusammenhanges, wenn auch ein wichtiger. Philosophisch gesehen liegt nämlich auf der anderen Seite in der Vorstellung von dem Zu-einem-Ende-bringen eine Gefahr, und zwar dann, wenn sie mit der Idee von strikter Abgeschlossenheit einhergeht. Denn stärker als anderen Wissenschaften ist es der Philosophie darum zu tun, immer wieder das Bewusstsein darüber zu schärfen, dass fortwährend zu prüfen ist, inwiefern Gegenstand und Verfahren in angemessener Relation stehen, ob Begriffe richtig bestimmt sind, wie methodische Entscheidungen zu bewerten sind, ob es neue oder besser Horizonte gibt, innerhalb derer man zu anderen Einschätzungen über Annahmen und Voraussetzungen des Verfahrens gelangt usw. Dies zeigt sich insbesondere in den Platonischen Dialogen. Rüdiger Bubner hält dazu fest: „Die Dialektik ist gleichzeitig Methode und das Bewusstsein ihrer richtigen Anwendung.“[23] „Der Dialog stellt eine selbständige Methode der Wahrheitserkenntnis auf dem Wege schrittweiser Klärung von geltenden Meinungen unter Rückgriff auf die Mitarbeit der Beteiligten dar. Die reflexive Beweglichkeit der Gesprächspartner bedeutet den Motor des Fortgangs statt dessen Behinderung“.[24]
Was ist also besser für die Philosophie: Spielen oder ein System erarbeiten? Oder muss man zunächst fragen, ob diese Frage überhaupt gut und sinnvoll gestellt ist?
Johan Huizinga untersucht in seinem bekannten kulturhistorischen Werk auch das philosophische Spielen und erläutert ausführlich dessen dunkle, negative Seite, nämlich die sophistischen Spielereien mit Wahrheiten und Gewissheiten um ihrer selbst willen oder zum Nutzen des Sophisten selbst: „Mitten in dem Kreis, den wir mit dem Begriff Spiel zu umschreiben suchen, steht die Gestalt des griechischen Sophisten. Der Sophist ist der leicht entgleiste Fortsetzer der Zentralfigur aus dem archaischen Kulturleben, [...]. Die Sucht, eine Aufführung zum besten zu geben, und die, einen Rivalen in offenem Kampf zu schlagen, diese zwei großen Triebfedern des sozialen Spiels, liegen in der Funktion des Sophisten sichtbar an der Oberfläche“.[25] „Betrachtet man das typische Produkt des Sophisten, den Sophismus, von der technischen Seite, als Ausdrucksform, dann verrät dieser sogleich alle [...] Zusammenhänge mit dem Spiel [...]. Der Sophismus steht dicht beim Rätsel. Er ist ein Fechterkunststückchen. [...] Spiele, bei denen der Verstand beschäftigt war und bei denen man einen anderen mit Fallstrickfragen hereinzulegen suchte, nahmen bei den Griechen in der Unterhaltung einen breiten Raum ein.“[26] „Fangschlüsse beruhen auf der Bedingung, daß das Feld logischer Gültigkeit stillschweigend auf einen Spielraum beschränkt wird, von dem man annimmt, daß der Gegner sich in ihm hält, ohne ein ‚Ja, aber!‘, das das Spiel verdirbt, einzuwerfen“ (ebd.). Schon Platons Sokrates entlarvt dies, etwa im Dialog Euthydemos: so lerne man nichts „über das Wesen der Dinge selber, sondern nur, die Menschen mit Spitzfindigkeiten zum Narren zu halten“.[27] „Um für alle Zeiten den Grundfehler der Sophisten, ihren logischen und ethischen Mangel, aufzuzeigen, hatte Plato diese leichte Manier des lockeren Dialogs nicht verschmäht. Denn auch für ihn blieb bei aller ihrer Vertiefung die Philosophie ein edles Spiel. Und wenn nicht allein Plato, sondern sogar noch Aristoteles die Trugschlüsse und Wortspielereien der Sophisten so ernsthafter Bekämpfung für wert gehalten hat, dann geschah dies, weil auch ihr eigenes philosophisches Denken sich noch nicht aus der Sphäre des Spiels befreit hatte. Tut dies die Philosophie überhaupt jemals?“[28]
Neben Sophistereien hat sich auf der dunklen Seite des philosophischen Spielens auch eine an parteiliches Denken gebundene Polemik in die Neuzeit gerettet:
„Die Wissenschaft einschließlich der Philosophie ist ihrem Wesen nach polemisch, und das Polemische ist vom Agonalen nicht zu trennen. In Epochen, in denen große neue Dinge aufkommen, tritt der agonale Faktor meistens stark in den Vordergrund. So ist es z. B. im siebzehnten Jahrhundert, als die Naturwissenschaft in ihrem glänzenden Aufblühen sich ihr Gebiet erobert und die Autorität des Altertums und des Glaubens zugleich angetastet wird. Alles schart sich immer wieder in Lager oder Parteien. Man ist Cartesianer oder man ist gegen das System, man nimmt Partei für die ‚Ancien‘ oder für die ‚Modernes‘, man ist, bis weit außerhalb der gelehrten Kreise sogar für oder gegen Newton, für oder gegen die Abplattung der Erde, das Impfen usw. Das achtzehnte Jahrhundert mit seinem lebhaften geistigen Verkehr, das durch die Begrenztheit der Mittel noch vor chaotischem Überfluß behütet wurde, mußte die Epoche der Federkriege im höchsten Grade werden. [...] diese Federkämpfe (bildeten) einen wesentlichen Bestandteil dieses [...] spielhaften Charakters, den wohl niemand dem achtzehnten Jahrhundert wird absprechen wollen und um den wir es zuweilen beneiden“.[29]
Huizinga hat also vor allem den Fechtkampf vor Augen, wenn er an philosophisches Spielen im Laufe unserer Kulturgeschichte denkt. Solche Fechtkämpfe, mit Blick auf Begründungsfragen, thematisiert auch Kant,[30] und sie prägen ganz zweifelsohne immer schon und ebenso bis in die heutige Zeit philosophische Debatten. Kant tadelt nun die radikal skeptische Anwendung des Verfahrens der Skeptiker,[31] aber er lobt dessen Nutzen für die Aufklärung. Denn wenn der Zweck irritierender Verfahren in der Erweiterung von Kenntnissen liege, sei die skeptische Methode nützlich: "etwas als ungewiß zu behandeln und auf die höchste Ungewißheit zu bringen, in der Hoffnung, der Wahrheit auf diesem Wege auf die Spur zu kommen […] ist also eigentlich eine bloße Suspension des Urtheilens. Sie ist dem kritischen Verfahren sehr nützlich, worunter diejenige Methode des Philosophirens zu verstehen ist, nach welcher man die Quellen seiner Behauptungen oder Einwürfe untersucht, und die Gründe, worauf dieselben beruhen; eine Methode, welche Hoffnung giebt, zur Gewißheit zu gelangen".[32] Auch schon in der ersten Kritik unterscheidet Kant eine wohlverstandene skeptische Methode vom Skeptizismus; dieser sei ein „Grundsatz einer kunstmäßigen und scientifischen Unwissenheit, welcher die Grundlagen aller Erkenntniß untergräbt, um, wo möglich, überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben übrig zu lassen. Denn die sceptische Methode geht auf Gewißheit dadurch, daß sie in einem solchen, auf beiden Seiten redlichgemeinten und mit Verstande geführten Streite, den Punct des Mißverständnisses zu entdecken sucht, um, wie weise Gesetzgeber thun, aus der Verlegenheit der Richter bey Rechtshändeln für sich selbst Belehrung, von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen, zu ziehen. [...] /Diese sceptische Methode ist aber nur der Transscendentalphilosophie allein wesentlich eigen, und kann allenfalls in jedem anderen Felde der Untersuchungen, nur in diesem nicht, entbehrt werden.“[33]
Wie eingangs bereits erläutert, geht im 19. Jahrhundert der Sinn für diese Seite klärenden philosophischen Denkens, die Kant als genuin tranzsendentalphilosophisch ausweist, verloren. An dieser Entwicklung waren sicherlich mehr Faktoren beteiligt und für diese Entwicklung ausschlaggebend, als es hier in diesem Text betrachtet werden konnte. Auch Huizinga stellt aber im Überblick fest: „Das neunzehnte Jahrhundert hatte das Gefühl für die Spielqualitäten des ihm vorangehenden verloren und den Ernst, der doch auch unter ihnen verborgen war, nicht bemerkt.“[34] „Im neunzehnten Jahrhundert dominiert der Ernst. Das neunzehnte Jahrhundert scheint für die Spielfunktion im Kulturprozeß wenig Platz zu lassen. [...] Europa zieht das Arbeitskleid an. Gesellschaftssinn, Bildungsstreben und wissenschaftliche Beurteilung wurden die Dominanten des Kulturprozesses.“[35]
Über kämpferische Auseinandersetzung hinaus kann man meines Erachtens der skeptischen Ironie und ihrer Bedeutung für das philosophische Spielen näher kommen, wenn man, wie zum Beispiel Helmuth Plessner, die konstitutive Bedeutung des Rätsels und des Rätsellösens für die Philosophie generell unterstreicht: „Philosophische Fragen dulden [...] kein begrenztes Offenhalten im Sinne garantierter Beantwortbarkeit durch Zuspitzung auf mehrere Möglichkeiten, unter Umständen auf eine Alternative, womit jede echte Wissenschaft operiert. Aber das ist keine Schwäche, sondern die Stärke und der echte Stil des Philosophierens, das älteren Ursprung hat als die wissenschaftliche Problematik und aus einer Frageform entstanden ist, die wir heute nur noch spielerisch gebrauchen, nämlich aus dem Rätsel. [...] Am [...] Unterschied zwischen Problem und Rätsel hält man fest, um so mehr als das Problem mit seinem Ernst dem Rätsel als Spielfrage [...] gegenübertritt. Problem ist jünger als Rätsel. Erst war das Rätsel, dann die Wissenschaft mit ihrer Kunst beantwortbaren Fragens. Die Philosophie steht zwischen beiden Arten von Frage. Ihre Ursprünge zeigen sowohl in Indien als auch in Griechenland enge Beziehung zum Rätsel.“[36] „Führung und Tiefe eines platonischen Dialogs“ stehen in der Tradition von ganz ursprünglich auch mit den Mythen verknüpften Rätselspielen, und auch „in späterer Zeit ist den Griechen selbst ein gewisser Zusammenhang zwischen Rätselspiel und den Ursprüngen der Philosophie bewußt gewesen. Clearchus, ein Schüler des Aristoteles, gab in seinem Traktat über die Sprichwörter eine Theorie des Rätsels und bezeugt, daß es einmal Gegenstand der Philosophie gewesen ist [...] So war bei den Griechen das Aufgeben von Aporien als Gesellschaftsspiel beliebt – und noch bei Aristoteles ist die Aporie nicht vergessen. Die Aporien oder Paradoxe Zenons sind bekannt. [...] Der gleichen agonalen Sphäre gehören zwei Formen an, die für Eristik und Dialektik von entscheidender Bedeutung sind: das Dilemma, eine Frage, deren Antwort stets zum Nachteil des Beantworters ausfallen muß, und das problema“.[37]
Mit Helmuth Plessner soll abschließend betont werden, was in meinen Augen auch die Aufschlüsselung der Art und Weise beinhalten kann, wie Kant sein Gesamtwerk komponiert: „Rätsel ist eine Frage, die Antwort heischt. Unlösbare Rätsel sind keine Rätsel. Es muß jemanden geben, der die Lösung kennt. [...] Der Zweck der Verrätselung liegt [...] nicht in der Lösung, sondern im Lösen. Es geht nicht um das Geheimnis, sondern um die Prüfung der Ebenbürtigkeit des Ratenden, um seine Würdigkeit: zugelassen, freigelassen zu werden.“[38] Die hierin angesprochene Freiheit des Denkens äußert sich ganz grundlegend immer auch im Zweifeln und Hinterfragen bei den AutorInnen und bei den LeserInnen, und beides bringt uns umso eindrucksvoller der Philosophie selbst nahe, je stärker es den Zweifel an den eigenen Gedanken und das Hinterfragen der eigenen Person fördert. Etabliert man eine solche Kultur, kann das darin sich zeigende skeptische Denken – im Gegensatz zu rechthaberischem Denken – wirkliche Aufklärung und die friedfertige Koexistenz verschiedenster Ansichten und Vorstellungen in der Welt realisieren helfen.
[1] Ernst Behler begründete und gab von 1958-1997 die Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe heraus. Er lehrte an der University of Washington in Seattle und veröffentlichte auch Arbeiten zur Ironie, z. B.: Ironie und die literarische Moderne, Paderborn u.a. 1997 (Behler 1997). – Vgl. Behler: Artikel „Ironie“ im HWRh, Band 4, Tübingen 1998, 599-624.
[2] Behler 1997, 15.
[3] Auch Herder betont in seinem Dialog Kritik und Satyre (in: Adrastea. Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts um die Kritik, 1803) die unüberwindliche Trennung von Ironie/Satire und ‚ernstem‘, aufrichtigem Denken.
[4] Z. B. Eudemische Ethik, 1233b 38 - 1234a 3; auch: Magna Moralia 1193a 28-37; auch Nikomachische Ethik, 1108; 1127. Bei Aristoteles wird das alles in den Horizont der Unterscheidung von Übertreibung und Untertreibung gestellt. In dieser Linie steht auch Theophrast, der in seinen berühmten Charakteren den ethischen Überlegungen Aristoteles‘ folgt. Der Ironiker wird bei ihm als durchtriebener Scharlatan und Heuchler präsentiert. – Mögliche Ausgaben sind: Charaktere, 2 Bde., hg. u. erkl. v. Peter Steinmetz, München, Huber 1960; The moral characters of Theophrastus, Glasgow 1756 (2); The Characters of Theophrastus, hg. v. R. G. Usher, London 1960.
[5] Schlegel liest sich z. B. (im Lyceum-Fragment No. 42) so: „Die Philosophie ist die eigentliche Heimat der Ironie, welche man logische Schönheit definieren möchte: denn überall wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz systematisch philosophiert wird, soll man Ironie leisten und fordern; und sogar die Stoiker hielten die Urbanität für eine Tugend. Freilich gibts auch eine rhetorische Ironie, welche sparsam gebraucht vortreffliche Wirkung thut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen die erhabne Urbanität der sokratischen Muse, was die Pracht der glänzendsten Kunstrede gegen eine alten Tragödie in hohem Styl. Die Poesie allein kann sich auch von dieser Seite bis zur Höhe der Philosophie erheben, und ist nicht auf ironische Stellen begründet, wie die Rhetorik. Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im Ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Bouffonerie. Im Innern, die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo.“ (Z. B. in: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 2, hg. v. E. Behler, Paderborn u.a. 1967, 152).
[6] Vgl. Behler 1997, 19, unter Bezug auf Hans-Georg Gadamer.
[7] Rüdiger Bubner fasst zusammen („Dialog und Dialektik oder Plato und Hegel“, in: ders., Zur Sache der Dialektik, Stuttgart 1980, 124 f.): „Plato nennt Dialektik eine Methode, die beim Reden beachten muß, wer Erkenntnis auf dem Wege des intersubjektiven Gesprächs sucht. Als Methode erlaubt Dialektik den Nachvollzug und grenzt sich so gegen das vermeintliche Weisheitsmonopol der Sophisten ab. Die Methode bewährt sich in der Anwendung der Redepraxis. Sie verselbständigt sich nicht künstlich in Ablösung vom Dialog, für den sie gilt. Das Verfügen über eine auf den Logos bezogene und deshalb in jedem sprachlichen Austausch gleichermaßen taugliche Methode erhebt die Philosophie zu einer ‚Wissenschaft‘. Die Kenntnis der Methode macht den Philosophen zu einem freien Menschen [...]. Was für Plato zumindest in seinen programmatischen Erklärungen eindeutig schien, unterliegt alsbald einer Revision. Aristoteles bedient sich derselben Gründe, die in Platos Debatte mit den Sophisten eine Rolle spielten, um auf Unvollständigkeit oder Unzulänglichkeit der dialektischen Methode zu plädieren. Die aristotelische Wissenschaftstheorie verbannt Dialektik, gerade weil sie es mit der intersubjektiven Redepraxis zu tun hat, aus dem Reiche strenger Wissenschaftlichkeit. Im logischen Kanon des Organon gehört die eigentliche Wissenschaft für Aristoteles auf die Seite der Analytik, weil sie einer klar bestimmten und deduktiv zwingenden Methode folgt.“
[8] Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 460, Frankfurt am Main 1971.
[9] Søren Kierkegaard, Om Begrebet Ironi met stadigt Hensyn til Socrates, Kopenhagen; übersetzt von Emanuel Hirsch (unter Mitarbeit von Rose Hirsch) als: Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Frankfurt am Main 1976 (zuerst Düsseldorf and elsewhere 1961).
[10] Kierkegaard 1841, 238.
[11] Kierkegaard 1841, 239 f.
[12] Kierkegaard 1841, 261.
[13] Kierkegaard 1841, 262.
[14] Kierkegaard 1841, 247.
[15] Kierkegaard 1841, 249.
[16] Kierkegaard 1841, 250.
[17] Kierkegaard 1841, 265.
[18] Kierkegaard 1841, 319.
[19] Kierkegaard 1841, 321.
[20] Uwe Japp: Theorie der Ironie. Frankfurt am Main 1983, 102.
[21] Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 11, hg. v. E. Behler, Paderborn 1958, 118.
[22] A. a. O., 20.
[23] Bubner 1980, 141.
[24] Bubner 1980, 143.
[25] Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod. Reinbek bei Hamburg 1956, 142 (Huizinga 1956).
[26] Huizinga 1956, 144.
[27] Huizinga 1956, 145.
[28] Huizinga 1956, 147.
[29] Huizinga 1956, 152.
[30] Bei Kant werden oft Metaphern aus der Fechtkunst verwendet, die das philosophische Vorgehen veranschaulichen. Die Metaphysik sei der Kampfplatz (Erste Critik B.XV; A.422 f.B.450 f.), der Philosoph der Ritter (cf. Erste Critik A.743.B.771); der unparteiische Kampfrichter die Vernunft; zur "Rüstung" gehörten auch Hypothesen der Vernunft, die, passend zu denen der Gegner, bleiern sind, wenn kein "Erfahrungsgesetz" sie "gestählt" habe (Erste Critik A.778.B.806; cf. Zweite Critik, 5)
[31] "Die Dialectic war für die Sachwalter und Anwälte in den alten Zeiten für nothwendig gehalten. Die Scepticer bedienten sich ihrer gleichfals häufig, denn sie legten es darauf an, die Menschen zur Ungewißheit zu bringen; bald dies, bald das Gegenteil zu behaupten" (Kant, Vorlesung über Philosoph. Enzyklopädie, 31). Der Grundsatz des Zweifelns mit der Maxime, Ungewissheit zu erzeugen, sei der des Skeptizismus. Wenn er "auf alle behauptende Erkenntniß Verzicht thut", vertilge er "alle unsre Bemühungen zum Besitz einer Erkenntniß des Gewissen zu gelangen" (Kant, Logik, 84: Einleitung X)
[32] Kant, Logik, 84 (Einleitung X).
[33] Erste Critik A 424 f. B 451 f.
[34] Huizinga 1956, 179.
[35] Huizinga 1956, 183.
[36] Helmuth Plessner, „Über die Rätselhaftigkeit der Philosophie“ (entstanden etwa 1943), in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Salvatore Giammusso/ Hans-Ulrich Lessing. München 2001: 217-230, hier: 218 f.
[37] Plessner 1943, 219.
[38] Plessner 1943, 221.