Wie man das Selbstdenken lernen kann II
– der Bau eines überzeitlichen philosophischen Systems

(Nov 2021 :: 8120 Wörter)

Übersicht

Einleitung – 1. Skeptische Details der Kritik an Anderen: Ironie, Spott, Satire – 2. Skeptische Inszenierung des Ganzen: die Dramaturgie der großen Bögen – 3. Was passierte mit der Ironie bei den Romantikern? Mit Bezug auf die unter 1) erörterten skeptischen Details – 4. Was passierte mit der Ironie bei den Romantikern? Mit Bezug auf die unter 2) erörterten großen Bögen philosophischer Werke – 5. Abschließende Bemerkungen

 

Im Folgenden geht es um Bewertungen der kantischen Philosophie und Methode, die aus Einsichten in den Gesamtzusammenhang des kantischen Werkes gewonnen wurden. Sein im Wesentlichen zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk wird hier als eine dramaturgisch und rhetorisch geplante, inszenierte Einheit eines Argumentationsganges verstanden, wobei eine skeptisch prüfende Methode zum Einsatz kommt, die durchgängig die Eigenart hat, zunächst mit nicht hinreichend bestimmten Begriffen und Einteilungen aus der Tradition zu operieren, um diese dann im weiteren Verlauf zu präzisieren und zu verbessern oder auch ganz abzustoßen. Die rhetorischen Strategien, die dabei zur Anwendung kommen, können seitens einer Interpretation, die annimmt, im Zeitraum zwischen den Texten hätte der Autor fundamentale Irrtümer in seinem eigenen Denken festgestellt und diese dann jeweils verbessert, nicht erkannt werden.

Wenn ein Autor über fünfzig Jahre hinweg fortlaufend Schriften vorlegt, dann ist es in jedem Falle zunächst plausibel, zwischen diesen Schriften einen Zusammenhang anzunehmen. Stützt man sich für den Nachweis eines solchen vorwiegend auf historische Quellen, steht man vor einem Problem: etliche dieser Quellen sind nicht in jeder Hinsicht eindeutig zu lesen; viele Briefstellen, in denen Kant von der eigenen Entwicklung im Denken oder von seiner eigenen Senilität und Unzulänglichkeit im Denken spricht, können mit guten Gründen als ironische, uneigentliche Rede ausgelegt werden – wenn man bedenkt, dass solche Briefe in Zeiten geschrieben wurden, in denen der Autor auf der anderen Seite brilliante Traktate vorlegt, dann müssen sie sogar so ausgelegt werden, meines Erachtens. Gleiches gilt für sich voneinander in ähnlicher Weise unterscheidende Passagen in den Schriften selbst: hier darf man nicht der Versuchung nachgeben, bestimmte Aussagen, die der Autor augenscheinlich über sich selbst trifft, im Sinne von Tagebuch-Einträgen zu lesen – sie sind Teil eines wohlkomponierten Ganzen, und man muss im Einzelfall auf die Suche gehen: spielt Kant auf einen anderen Autor an oder auf seinen Systembau? Denn häufig stehen in seinen Schriften Äußerungen der Art, dieses Problem könne er ‚jetzt noch nicht‘ genauer klären oder auflösen. Das beziehe ich darauf, dass die Klärung der entsprechenden Frage oder des Problems für eine spätere Behandlung vorgesehen ist, nachdem vielleicht bestimmte Untersuchungen an Begriffen erfolgt sind, deren Einteilung oder Bestimmung für eben diese Klärung erforderlich ist. Da Kant selbst aber diesen Systembau und die innerhalb dieser Einheit des Ganzen miteinander zusammenhängenden Schriften meist nur indirekt, durch Anspielungen, thematisiert oder ankündigt, geht man in der Kant-Interpretation seit den Anfängen im 19. Jahrhundert und angesichts der Tatsache, dass für diese Interpretation bisher primär historistische Präsuppositionen zugelassen werden, davon aus: es gibt einen solchen sukzessiv ausgearbeiteten, von Anbeginn geplanten Systembau bei Kant nicht. Denn: er hat ja nicht über ihn gesprochen. Quod erat demonstrandum.

Statt dessen nimmt man seine verschiedentlichen Äußerungen, etwas könne noch nicht erfolgen oder noch nicht jetzt vorgelegt werden, sowie die Tatsache, dass es eine starke inhaltliche Bewegtheit innerhalb der theoretischen Aussagen und innerhalb der Untersuchungen und der Untersuchungsgegenstände durch das gesamte Werk hindurch gibt, als Nachweis für die fortwährende Denkentwicklung des Autors, der seine Überlegungen ständig hat verbessern müssen und also immer erst nach einem entsprechenden Schritt der Verbesserung eine neue Schrift hat vorlegen können. Diese Entwicklungsidee bildet ein basales Paradigma im Denken des 19. Jahrhunderts. Ich finde es außerordentlich bedauerlich, dass man bis heute nicht die Notwendigkeit sieht, diese Idee einmal kritisch zu hinterfragen und auf den Prüfstand zu stellen. Ähnliches gilt für den mit der Entwicklungsidee verwandten Fortschrittsglauben mit Bezug auf die Geisteswissenschaft – ein für kluges Denken und den Einbezug älterer Autoren meines Erachtens in höchstem Maße hinderlicher Glaube.

Mit einer generellen Denkschwäche Kants die Verbindung zwischen den Schriften zu erklären, ist nicht Bestandteil meiner Perspektive. Kant wäre dann vergleichsweise passiv irgendwelchen äußeren Einflüssen unterworfen und würde diesen immerzu den jeweils aktuellen Stand seines Schrifttums anpassen. Nein, Kant hat alle Verfahrensschritte und alle Texte und Arten von Texten absichtlich konzipiert, alle Irritationen und Volten in seinen Texten sind inszenierte Strategien, mit denen er einen mehrschichtig angelegten Plan verfolgt. Auf der einen Seite hat dieser Plan eine für die Zeitgenossen gemeinte philosophisch-pädagogische Seite: die LeserInnen sollen selbstständig denken lernen. Revisionen und abweichend von früheren Argumenten weitergeführte Gedankengänge bei Kant sind Bestandteile seines Verfahrens, mit dem den LeserInnen sowohl Gegenstandswissen als auch Methodenwissen, und zwar performativ-methodologisch, näher gebracht werden soll. Sie sind die, die durch einen Gedankengang geführt, in eine Irritation geschubst werden, aus der sie entweder mit Hilfe des Autors (durch die Lektüre späterer Schriften, die bestimmte Rätsel auflösen) oder sogar ganz von selbst herausfinden (sollen). Dem ganzen Werk Kants liegt ein skeptisch-diskursives Verfahren zu Grunde, das LeserInnen erst bemerken, wenn sie sich nicht von einer historistischen Warte aus erhöhen, über ihn setzen und behaupten, er habe fortwährend Fehler begangen.

Denn Kant setzt sich mit dogmatischen Ansätzen häufig spöttisch oder satirisch auseinander, insbesondere in seinen früheren Schriften. Von diesen Schriften wird seitens der InterpretInnen behauptet, sie seien im Ganzen so dogmatisch wie Texte der von Kant auf subtile Art verspotteten Autoren der Tradition. Kant gilt heutzutage, weltweit, als ein Autor, der zwar mit der Methode der Kritik und dem Anspruch der Transzendentalphilosophie gegen dogmatische Rechtfertigung angeht, der aber eben bedauerlicherweise mit einem Bein noch fest in der dogmatischen Tradition steht.

Das ist eine Annahme, die sich falschen Interpretations-Voraussetzungen verdankt. Um sie zu überwinden muss man einmal die Probe wagen und sich auf die Irritationen und Rätsel und die gesamte Inszenierung, kurz: auf die Denkschule eines der großen skeptischen Denker der Philosophiegeschichte einlassen.

Die zweite Seite des skizzierten Plans ist darauf bezogen, dass ein solches performativ-methodologisches Verfahren nicht nur für diejenigen, die Kant in seiner eigenen Epoche umgeben, die also im weitesten Sinne zeitgleich mit ihm leben, gemeint ist, sondern dass dieses Verfahren, und das ist eine im allerhöchsten Maße brilliante Anwendung der Aufklärungsidee, weit in die Zukunft hinein angelegt ist, und auch spätere Generationen im Denken und für das Denkenlernen herausfordert. Wir sind gemeint, wenn es darum geht, bestimmte philosophische Probleme und die verschlungenen Gedankengänge ihrer Bearbeitung zu durchdenken. Und dieses „Wir“ gilt auch noch in zweihundert oder tausend Jahren.

Das Interessante ist ja, wenn man einmal seinen Blick über die westliche Philosophie der vergangenen Generationen schweifen lässt: kaum ein anderer Autor ist so intensiv ‚beackert‘ worden wie Kant. Und woran liegt das? Das liegt an den vielen offenen Punkten, die sein Werk enthält, an den vielen gerade nicht in Form eines Lehrgebäudes fertig gezimmerten Denk- und Methodenfragen. Das liegt daran, würde ich sagen, dass sein Systembau in die Zukunft der philosophisch interessierten Menschheit hinein geplant ist, und das wiederum bedeutet, meines Erachtens, ähnlich wie in der platonischen Philosophie, für die eben das im Übrigen auch gilt: dass ihr wesentlich Offenheiten einkomponiert sind. Man sollte diese Eigenschaft eines Systems, die noch genauer auszubuchstabieren und in den einzelnen Elementen detailliert zu zeigen sind, als einen wesentlichen Zug skeptischen Denkens auffassen. Skeptische Systeme sind sonst innerhalb der Philosophiegeschichte selten; man müsste einmal genauer das Werk Gassendis oder Diderots untersuchen, dann würde man auch hier vermutlich fündig werden, denke ich. Was aber auf jeden Fall gilt: diese Offenheiten sollten unbedingt als inszenierte Offenheiten verstanden werden (bei Platon, bei Kant) und damit als kluge, philosophisch gedachte Elemente des Ganzen, aber nicht als Manko einer philosophischen Konzeption. Es wäre von Nachteil, würde sich die Philosophie heute und in die Zukunft hinein gedacht nur noch im Sinne einer Wissenschaft verstehen, die zu bestimmten Fragen Lehrgebäude in die Welt tragen möchte. Diese Lehrgebäude mögen durch allerbeste Begründungen fundiert sein und sich in ihrer Bauweise als abgeschlossen verstehen – aber ist es wirklich das, mit dem wir die Faszination philosophischen Denkens verbinden? Und ist es wirklich so bereichernd, wenn Philosophen mit ihren Lehrgebäuden aufeinander losgehen, in der Absicht, den jeweiligen Gegner zu ‚schlagen‘? Philosophie wird durch Fragen lebendig gehalten, nicht primär durch Antworten und schon gar nicht durch Antworten, an die sich gar keine Fragen mehr anschließen ‚sollen‘. Für heute und für die Zukunft gilt außerdem: mit derartigen Lehrgebäuden beschäftigt sich doch nach einer gewissen Zeit kaum jemand mehr. Wer untersucht denn heute noch wirklich eingehend und im Rahmen spannender Debatten die Werke Wolfs oder Baumgartens?

 

1. Skeptische Details der Kritik an Anderen: Ironie, Spott, Satire

Kant sagt an vielen Stellen in seinem Werk, er wolle nicht Philosophie, sondern er wolle das Denken lehren, es heißt sogar, man könne Philosophie gar nicht lehren. Da fragt sich zunächst: was ist der Unterschied zwischen Philosophie und Philosophieren? Die zweite Frage lautet: Wie soll man sich das Unterrichten des Philosophierens im Rahmen von Druckschriften vorstellen – also, es wäre ja noch denkbar, dass Kant in einer Vorlesung die Zuhörer zum aktiven Mitdenken bringt, aber wie sollte das auf der Grundlage einer Druckschrift möglich sein?

Zur ersten Frage: Philosophie lässt sich bestimmen als die Summe von Lehren und Argumentationen, wie sie in der Vergangenheit präsentiert und meist schriftlich überliefert worden ist. Diese Summe liegt historisch vor und umfasst die Lehren und Texte der Philosophiegeschichte als Ergebnisse von Denkprozessen. Nun lernt man, während man diese Ergebnisse lernt, im Philosophieunterricht, im Studium, im Selbststudium, auch diese Denkprozesse nachvollziehen. Genügt das nicht? Dabei lernt man doch auch das Denken. Oder bedeutet Philosophieren gegenüber der zum Ergebnis geronnenen Philosophie, dass man lernt, wie solche Ergebnisse herzustellen wären? Ist dann also Philosophie Unterrichten so etwas wie kreatives Schreiben? Oder bedeutet das substantivierte Verb Philosophieren einfach Argumentieren?

Nun kann man durchaus Argumentieren lernen, wenn man Texte der Tradition studiert und ihre Überlegungen durchdenkt. Im Nachvollzug dieser Gedanken würde man also Philosophie auf der historischen Grundlage der Theorien Anderer lernen. Es ist auch sehr gut möglich, dass man im Verlaufe dessen zu eigenen Antworten kommt, und dann würde man im Grunde nur noch die Anleitung benötigen, wie man eigene Gedanken vernünftig zum Ausdruck oder zu Papier bringt.

Also könnte man Philosophieren bestimmen als das Nachvollziehen der von Anderen vorgelegten Gedanken bei gleichzeitiger Vorbereitung von Gegenargumenten und von Strategien der Gegenargumentation. Philosophieren und Denken wären also Kompetenzen, die geschult würden durch das Aufnehmen von Denkresultaten und das Nachvollziehen von Argumenten. Aber: Diese Kompetenzen wären erst dann valide, wenn ein Zusammenspiel mit Überlegungen stattfände, die nicht Teil des Gelesenen und Aufgenommenen sind. Selbst wenn das Aufgenommene aus einem Diskurs stammte und also bereits Argumente und Gegenargumente enthielte, bestünde die Kompetenz des selbstständigen Denkens nicht darin, diese einfach nur wiedergeben zu können. Man könnte vielleicht sagen: eine zentrale Rolle für das Philosophieren spielt die Förderung des Widerspruchsgeistes, die Förderung von Gegenargumenten. Wenn man eine solche Förderung mit pädagogischen Mitteln hervorbringen möchte, dann muss man mehr tun, als philosophische Lehrsätze zum Mitschreiben vortragen, die auswendig gelernt werden sollen. Besser geeignet wäre es, wenn man auf der Grundlage bestimmter Kenntnisse über Gegenstand und Methoden bestimmte Positionen diskutierte, indem man Geltungsansprüche über das Geben und Nehmen von Gründen klärte.

Bei Kant kann das Unterrichten des Philosophierens nur auf sein Druckwerk bezogen sein, da in den Vorlesungen eher Wissensinhalte vermittelt wurden, aber nicht über Geltungsansprüche diskutiert wurde – jedenfalls wenn man den erhaltenen Quellen glauben kann. Ein gedruckter Text ist ja aber eben keine Seminarsituation oder Vorlesung. Wenn im Zusammenspiel aufgenommener und eigener Gedanken, im Zusammenspiel von Pro und Contra, der Widerspruchsgeist gestärkt und das regelgerechte Begründen und Debattieren geübt werden soll und so eine Förderung des eigenen Denkens und somit ein Unterricht im Philosophieren stattfindet, dann fragt es sich doch: Wie kann man so etwas in einem gedruckten Text erreichen? Die Antwort: Kant erreicht es über verschiedene Texte hinweg, die im Zusammenhang stehen. Dabei bedient er sich unterschiedlicher Mittel, um den LeserInnen das Denken, Widersprechen, Begründen und damit das Philosophieren beizubringen.

Die Förderung des Widerspruchsgeistes gelingt 1. durch den Vortrag verschiedenster philosophischer Positionen, die im einzelnen nicht miteinander kompatibel sind und 2. durch den Einbau von Fehlern, die im Folgenden als Fangfehler bezeichnet werden. Ich behaupte, dass solche Fangfehler sehr wirkungsvolle Operatoren einer skeptischen Methode sind. Um diese Fehler aufzudecken, muss man das anwenden, was man unmittelbar zuvor gelernt hat. Gelingt das, zeigt es sowohl dem oder der Lernenden, dass er oder sie die Sache verstanden hat. Außerdem ist auf diese Weise das falsche ‚Wissen‘ ein doch bedeutender Teil des Lernprozesses und bleibt in der Erinnerung an das Gelernte und an den Unterricht immer Teil der Abgrenzung von korrektem Wissen. Damit weist diese Art zu unterrichten eine entscheidende Übereinstimmung mit Methoden skeptischer Ironie auf.

Die Wirkung einer solchen Unterrichtsweise ist erstens, dass sie SchülerInnen in eine Situation bringt, in der diese auf sich allein gestellt sind und unabhängig von allen anderen, sprich: selbstständig entscheiden müssen, welche Aussagen der lehrenden Person richtig und welche falsch sind. Ja, mehr noch: zunächst muss überhaupt bemerkt werden, dass falsche Aussagen darunter sind. Nur wenn jemand auf sich allein gestellt Beurteilungen leisten kann, dann hat er oder sie gelernt, selbstständig zu denken. Das aber ist doch das erklärte Ziel der Aufklärungsphilosophen. Das sollten wir nicht als nette Floskeln abtun, das war doch außerordentlich radikal gemeint. Bei Kant war es außerdem in der Durchführung genial komponiert. Ich behaupte, dass Kant eine große Zahl solcher Fangfehler in seine Texte einbaut. Sie werden in aller Regel nicht vorher angekündigt, und wenn, dann nur sehr indirekt. Man kann sie einteilen in:

  1. Fehlschlüsse oder logisch gesehen äußerst problematische Herleitungen

  2. Inhaltliche Gegensätze oder sogar Widersprüche in Aussagen

  3. Inhaltliche Widersprüche durch grammatische Bezüge

  4. Verwendung von unterbestimmten Begriffen unter der Vorgabe, sie seien bestimmt

Der beabsichtigte Effekt beim Lesen soll dabei, so meine Überzeugung, ungefähr dieser sein: Moment, nein, das kann nicht sein! Da stand doch hier eben irgendwo das Gegenteil. Oder: Moment, das kann grundsätzlich nicht ganz stimmen. Als LeserIn gerät man in eine Art Dilemma oder sogar in eine Aporie: Es liegen zwei einander widersprechende oder doch stark kontrastierende Inhalte vor, und der Autor des Textes scheint nichts in die Hand zu geben, mit dem man in der Lage ist, aus dem Problem hinauszufinden.

Dass man diese Arten von ‚Fehlern‘ in kantischen Texten als absichtlich einkomponierte Fehler versteht, ist bislang nicht Teil der Interpretation. Vielfach greift man zu der Erklärung: Die Setzer und Korrektoren kantischer Schriften haben Fehler aus dem Schreibe- und Abschreibeprozess stehen lassen, und Kant war so nachlässig beim Prüfen der Bürstenabzüge, dass er das alles hat durchgehen lassen.

Nun ist es so, dass eine systematische Analyse und Kategorisierung aller ‚Fehler‘ durch das gesamte Druckwerk hindurch bisher nicht vorliegt. Sicherlich sind Versehen beim Satz und beim Druck passiert, und viele solcher Druckversehen lassen sich auch recht unproblematisch als solche identifizieren. Und sicherlich sind bei weitem nicht alle übrigen ‚Fehler‘ absichtlich, zu pädagogischen Zwecken einkomponiert, aber für eine genauere Beurteilung bräuchte man meines Erachtens erst einmal eine genaue Auflistung und einen statistischen Auswertungsversuch, anstatt sich auf diffuse Vermutungen über die Nachlässigkeiten des Autors und die fehlerhafte Arbeitsweise der Kopisten, Setzer und Drucker festzulegen.

 

2. Skeptische Inszenierung des Ganzen: die Dramaturgie der großen Bögen

Die eingangs erwähnte Tatsache, dass das Gesamtwerk kantischer Philosophie eine inszenierte Einheit eines Argumentationsganges darstellt, wobei eine skeptisch prüfende Methode zum Einsatz kommt, die durchgängig die Eigenart hat, zunächst mit nicht hinreichend bestimmten Begriffen und Einteilungen aus der Tradition zu operieren, um diese dann im weiteren Verlauf zu präzisieren und zu verbessern oder auch ganz abzustoßen, soll nun ein wenig genauer erläutert werden.

Erstens ist von entscheidender Bedeutung, dass Kant sich nicht nur einige wenige problematische Gedankenführungen der Tradition aussucht, die er im Verlauf seines Verfahrens prüft und kritisiert, sondern dass er, so meine These, sich mit dem Anspruch auf Vollständigkeit ALLE Ansätze und Theorien aus dem Fundus der philosophischen Tradition vorknöpft. Das ist nach meiner Interpretation, wie in einem anderen Text erörtert, die spezifische Form kantischer ‚Eklektik‘. Dieser Einbezug braucht natürlich einen gewissen Raum, und deshalb bringt Kant die Auseinandersetzung mit den Gehalten bestimmter Theorien zu bestimmten Problemen auch in der Regel nicht in einer einzigen Schrift unter, sondern verteilt sie auf verschiedene Texte.

Zweitens wird eine dramaturgisch geplante Abfolge und eine Bewegtheit in verschiedenen Inhalten durch längere Etappen der gesamten Gedankenführung hinweg konzipiert, die man als pointenreiche Inszenierung verstehen kann: Der Autor erzeugt einen kathartischen, überraschenden Effekt, wobei zunächst eine Spannung aufgebaut wird, die sich entlang der Gedankenführung in Form von manchmal mehreren Volten und Wendungen der philosophischen Bearbeitung bildet, und die dann durch die Präsentation gewissermaßen des Schluss-Akkords gelöst wird.

Dabei wird bei Kant zunächst die Grundlage für die philosophische, begriffliche Untersuchung in Entsprechung zu den von anderen Autoren (der Tradition oder auch der Zeit Kants) vorgelegten Vokabeln und Einteilungen vergleichsweise locker aufgespannt. Schritt für Schritt wird das Wissen über einen Gegenstand und das Wissen, wie man zu so einem Wissen kommen kann, fester gezurrt. Hinter bestimmte Errungenschaften aus kantischen Herleitungen wird dann nicht mehr zurückgegangen. Beispiele für die durch nahezu das gesamte Druckwerk Kants geführten Themen solcher Inszenierungen sind: das Ding an sich, der Freiheitsbegriff, der Unterschied der Geltungsbereiche von Mathematik und Philosophie, die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, das Zeitkonzept, das Raumkonzept, das Kausalprinzip, der Gottesbegriff, der Äther, die Analogie zwischen den Verfahren der Naturwissenschaft und der Metaphysik, und anderes mehr.

Die Schwierigkeit, die gegenwärtig darin besteht, eine solche Interpretation des kantischen Gesamtwerks zu plausibilisieren, verdankt sich gar nicht dem Werk selbst, sondern den Interpretationsgewohnheiten, die seit 200 Jahren herrschen. Natürlich sind die verschiedenen Volten der Gedankenführung auch schon im 19. Jahrhundert aufgefallen – weshalb man ja zu der Idee der Denk-Verbesserung beim Autor griff –, und sie sind eben bis heute, teils äußerst eingehend, Gegenstand von Untersuchungen, und zwar auf der Grundlage jener Annahme von der Denk-Verbesserung seitens Kants. Was allerdings dabei zu bemängeln wäre: in aller Regel hat man sich innerhalb der Forschung darauf geeinigt, sein Werk in verschiedene Phasen (wobei den Schriften verschiedene Geltungsansprüche zugeordnet werden) sowie in verschiedene thematisch, disziplinär voneinander getrennte Zuständigkeiten von Schriften einzuteilen, was wiederum dazu führt, dass man die Gedankenführung, selbst wenn sie bei Kant durch weite Teile des gesamten Werks gehen sollte, nur noch innerhalb bestimmter Schriften rezipiert. Natürlich kann man dann bestimmte kluge Wendungen und kathartische Effekte im Ganzen des kantischen Systems überhaupt nicht mehr bemerken: entweder weil man späte oder frühe Texte niemals liest oder weil man, selbst wenn man sie lesen sollte, über alle andere Präsuppositionen für die eigene Arbeit die historisierende Prämisse von der Denk-Entwicklung setzt, mit der man zugleich prima rechtfertigen kann, dass man sich (z. B.) auf die Schriften der Werkmitte zu konzentrieren gedenkt.

Mit einer solchen Inszenierung über die Druckschriften hinweg verbindet sich hinsichtlich der Arbeit am Begriff, die bei Kant stattfindet, die Einsicht, dass, so sagt es Kant auch selbst, eine kluge, methodisch gerechtfertigte Arbeit am Begriff nur disjunktiv erfolgen kann. Daher werden in manchen Schriften bestimmte Ausdrücke präterminologisch verwendet. Sie sind in diesen Fällen in hypothetische Argumente eingebunden – die man in der Regel rhetorisch auch als solche erkennt – und deshalb eben zum jeweiligen Zeitpunkt noch nicht ‚fertig‘ bearbeitet. Es müssen erst noch weitere Untersuchungen absolviert werden, bis es zu einer besseren Einteilung eines Begriffes oder einer besseren Bestimmung seiner Bedeutung kommen kann. Manche Forschungsarbeiten haben sich aber nun in der Vergangenheit in recht elaborierter Form eben solchen präterminologischen, hypothetischen Erörterungen Kants gewidmet, so dass mit dem Eingeständnis von deren Vorläufigkeit innerhalb des Ganzen der Gedankenführung vielleicht die Sorge einhergeht, die eigenen Forschungsergebnisse könnten abgewertet werden.

Der Leser wird also bei Kant durch Schleifen und Stränge diverser Probleme, Thesen und Argumente geführt.[1] Nicht mehr recht zu wissen, ob der Autor sich hypothetisch oder recte lehrend äußert, führt zur Ausbildung eines geschärften Beurteilungsvermögens, so dass irritierend vorgebrachte Sätze zur Aufklärung der Leser einen wichtigen Beitrag leisten können. Es sei förderlich und wohltätig,[2] wenn den Lesern zunächst auch ungeeignete Verfahrensweisen unterbreitet würden, um ein tätiges Mitvollziehen des Gedankens zu bewirken.[3] Dass bestimmte Ausführungen als Rätsel gemeint waren, wird erst dann explizit gemacht, wenn die Auflösung ansteht. „Hier erklärt sich auch allererst das Räthsel der Critik, wie man dem übersinnlichen Gebrauche der Categorien in der Speculation objective Realität absprechen und ihnen doch in der Ansehung der Objecte der reinen practischen Vernunft, diese Realität zugestehen könne.“[4] Die Zweite Critik löst so mit präzisierten Begriffen[5] Punkte auf, die die Erste Critik offen gelassen hatte, indem unter anderem die Kausaltheorie vertieft wird. Durchgängig im Werkaufbau ist das Verfahren offener Enden zu beobachten. Dass der Leser über verschiedene Positionen und Denkansätze der Tradition informiert wird, trägt zum Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ebenso bei wie der Umstand, dass in progressu sein Beurteilungsvermögen geschärft und die eigene Mündigkeit im Denken durch Verfahren der Irritation und Verrätselung gefördert wird. Das Werk Kants ist ein Gang durch eine Argumentation. Die Folge der Schriften entspricht einer Kapitelabfolge. Anders als bei Kapiteln eines Buches sind diese Schriften natürlich nicht gleichzeitig veröffentlicht worden. Ihr zeitliches Auseinander ist Ausdruck dafür, dass Philosophie Arbeit ist, wie Kant pointiert in Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie ausführt,[6] und entspricht dem Auseinander, das Descartes' Meditationen, als Beispiel für einen Dialog mit sich selbst, oder die Discorsi Galileis, als Beispiel für einen Dialog unter mehreren, aufweisen.

Denn in Kants Werk findet ein Dialog zwischen philosophischen Problemen sowie auf der Metaebene zwischen ihm und dem Leser statt. Die fortlaufende Diskussion von Begriffen und Theorien sowie deren Modifikationen und Transformationen führen dazu, dass erst das Ganze der Bearbeitung die Art der Behandlung im jeweiligen Kontext erhellt. Die Titel geben nicht immer direkt den Inhalt zu erkennen. Manchmal ruhen Themen, während andere weiter bearbeitet werden. Aber der Gang der Argumentation wird immer direkt fortgesetzt. Im Zentrum steht das Diktum Kants, es sei nicht Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren. „Der den Schulunterweisungen entlassene“ Studierende denke, „er werde Philosophie lernen, welches aber unmöglich ist, denn er soll jetzt philosophiren lernen“.[7] Die präsentierten Argumente sind nicht immer Lehrinhalte, sondern ermöglichen häufig verschiedene Blickwinkel auf ein Problem oder einen Lösungsansatz, wodurch neben der Sachfrage Methodenaspekte erörtert werden können.

Für die Geltungsprüfung zentraler Begriffe und Argumente der Tradition unter Berücksichtigung des modus cognoscendi ist eine Kenntnis verschiedener solcher modi unabdingbar. Nur wenn man das eigene Denken mit der Fähigkeit ergänze, an der Stelle anderer zu denken, gelange man schließlich zur konsequenten Denkungsart.[8] Mit Blick auf diese verbindet Kant seine Philosophie und Werkkomposition mit juristischen Prozessen und dem dazu unverbindlichen und vourteilsfreien Anhören bestimmter Standpunkte vor Gericht.

Dem entsprach z. B. auch schon die scholastische Kultur akademischer Dispute, die nämlich forderte, zuerst die Position des Gegners vorzutragen, bevor man eigene Einwände vorbringen durfte. Anschließend hatte man die möglichen Lösungen zu vergleichen. Dies "kennzeichnet ebenso die scholastische Methode der Beweisführung wie die mittelalterliche Gerichtspraxis".[9] Ab dem 12. Jahrhundert übten Juristen unter Verwendung von Insolubilia eine solche dialektische Methode vor Gericht ein.[10] Kant betont die Bedeutung dessen im Rahmen einer Analogie zur Philosophie in CrV. Das Bild der Situation eines Gerichtsprozesses ist eines der wichtigsten auch im Gesamtwerk.[11]

Aktuelle Gegebenheiten können sich auf bestimmte Aspekte des Werkaufbaus auswirken, sind aber keine conditiones sine qua non für den Gang der Argumentation. So können Ausschreibungen oder aktuelle Ereignisse die Reihenfolge der Bearbeitung bestimmter Themen, die äußere Form oder die Erscheinungstermine beeinflusst haben,[12] aber das gilt nicht für die Argumentation als solche. Die Schriften haben mehrere Funktionen, neben der Weiterführung der Argumentation sind dies z. B. die Vermittlung von Lehrsätzen, etwa in Metaphysik der Sitten, oder die Funktion einer Rezension bzw. einer Replik. Die wichtigsten Repliken sind Erinnerungen des Recensenten der Herderschen Ideen über ein im Februar des Teutschen Merkur gegen diese Recension gerichtetes Schreiben; Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace; Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll; Ueber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig seyn, taugt aber nicht für die Praxis; Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie; Ausgleichung eines auf Mißverstand beruhenden mathematischen Streits; Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie; Ueber ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen. Äußere Umstände können die Planung und Vorbereitung von Schriften auch eingeschränkt haben. Von 1758 bis 1762 gab Kant nur Vorlesungsankündigungen heraus.[13] Während dieser Zeit, der Jahre des Siebenjährigen Krieges,[14] waren Veröffentlichungen erschwert, weil nun für die Verwaltung und Zensur in Preußen die russische Besatzungsmacht zuständig war, mit Ausnahme allerdings der Zensur akademischer Publikationen. Diese blieb bei der Universität.[15] In Form von Vorlesungsankündigungen zu publizieren bedeutete somit, dass man eine Auseinandersetzung mit einer weiteren Interesseninstanz vermeiden konnte.

Größere Zeiträume der Ausarbeitung, verschobene Erscheinungstermine, Reaktionen auf aktuelle Schriften oder Ereignisse[16] wie auch zeitlich gehäufte Publikationen zeigen, dass der Prozess der Realisierung der Gedankenführung in bestimmten Hinsichten dynamisch war. Die Häufung von Veröffentlichungen Anfang der sechziger Jahre kann mit jener Besatzungszeit erklärt werden, in der diese Schriften ausgearbeitet wurden, aber schon allein aus Gründen ihres Umfangs nicht als Teil einer Vorlesungsankündigung veröffentlicht werden konnten.[17] Die Ausarbeitung der Schriften orientiert sich an ihrer Funktion für das Werkganze, worauf auch bestimmte Bemerkungen Kants systematisch, nicht aber im Sinne eines zeitlichen Datums, zu beziehen sind, etwa die Feststellung, seine Bearbeitung sei "durch jene Humische Zweifellehre veranlaßt" worden.[18]

Viele Fragen und Begriffe werden durch das Gesamtwerk hindurch wiederholt behandelt. Viele Schriften fungieren mit Blick auf das Werkganze zugleich als „summa und Weiterführung“,[19] so dass Wiederholungen ein wichtiges Element des Verfahrens sind. Spätere Schriften sind Kommentare, Ergänzungen und Lösungen des Vorigen. So erörtert Kant z. B. im Kontext des Erhabenen die Wirkung des Krieges auf die Gesellschaft und seine ästhetische Beurteilung;[20] später erfolgt die ethische Bewertung,[21] was mehrere modi cognoscendi einbezieht und der ersten Betrachtungsweise einen Kommentar und eine Lösung nachschickt. Auch Georg Cavallar stellt hierzu fest: „Es gibt nicht zwei verschiedene ‚Kants‘, sondern nur einen, der allerdings je nach Perspektive über denselben Gegenstand unterschiedlich urteilt“.[22] In dem schrittweisen Argument des Gesamtwerks haben demgemäß viele Schriften ein offenes Ende, weil nicht alle modi cognoscendi zugleich berücksichtigt werden.[23] Kant schreibt immer wieder, bestimmte Fragen würden „jetzt noch nicht“ bearbeitet.

Häufig wird die Präsentation neuer Aspekte dramaturgisch gestaltet, etwa wenn die Deduktion des Sittengesetzes in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten durch das überraschende Moment der Faktizität der Freiheit in der Zweiten Critik als etwas zunächst „ganz Widersinnisches“, das „an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction“ trete, fortgesetzt wird.[24]

Opus postumum schließt das Werk,[25] allerdings ohne Themen noch einmal aufzunehmen, die in den Schriften der Jahre 1797 bis 1800 bereits abgeschlossen wurden;[26] die Schrift knüpft methodisch an die erste und dritte Kritik sowie an Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft an.[27] Das „Mannigfaltige der Erscheinungen“ solle „nicht aus der Erfahrung empirisch sondern für die Erfahrung, a priori“ durch den Verstand zu einem Ganzen constituirt werden.[28] Der ältere Kant ist dabei nicht, wie Nicolas Rescher meint, der „Kommentator des jüngeren Kant“.[29] Das Werkende ist vielmehr der Abschluss des großen Bogens, der das Werk umspannt. Das Opus postumum zeige, so drückt es Ernst Cassirer aus, „eine schroffe Deutlichkeit und Direktheit, die Kants frühere Ideen in einem klaren und manchmal durchaus unerwarteten Licht erscheinen läßt“, und gebe methodologische und inhaltliche „Aufschlüssse, die man in gleicher Bestimmtheit und Schärfte in den früheren Werken vergebens suchen würde“.[30] Werkschließend wird die Systematizität einer nach wissenschaftlicher, kritischer Methode aufgebauten Philosophie dadurch abgeschlossen und bestätigt, dass diverse Fäden aus den teils hypothetischen Gedankengängen nun zu einem Ganzen zusammengeführt werden, das sich auch an der Integration von mechanistischen und teleologischen Theorien über die Natur orientiert. Dass Kant in diesem Dokument so häufig von einem „Uebergang“ schreibt, widerspricht dem Gedanken von einer Abgeschlossenheit nicht, sondern bestätigt ihn.

 

3. Was passierte mit der skeptischen Ironie bei den Romantikern? Bezogen auf ironische Details in philosophischen Texten

Wie auch im Text über die romantische Ironie erläutert, zeigten viele AutorInnen aus der Zeit nach Kant, in Europa, eine Vorliebe für theoretische Gegenstände, die einen Bezug zu verschiedenen Arten von ‚Erhabenheit‘ aufweisen, sowie für einen unbedingten wissenschaftlichen ‚Ernst‘ und mit Bezug auf ihre eigenen Theoretisierungen eine starke Ablehnung gegenüber Mitteln der Satire, des Spottes, der Lächerlichkeit und Ironie.

Eine grundsätzliche Problematik könnte im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert darin bestanden haben, dass man mit philosophischer Ironie im Wesentlichen die Figur des Sokrates verband, nicht aber den Autor Platon.[31] Wenn man nur das, was an ironischen Verfahren im Rahmen der Platonischen Dialoge zu finden ist, betrachtet, und zwar vor dem Hintergrund eher negativer Bewertungen, wie sie der Ansicht Aristoteles‘ und Anderer zu verdanken sind, dann übersieht man möglicherweise Strategien philosophischer, das heißt skeptischer Ironie, die sich auch in der Komposition der großen Bögen zum Beispiel der Platonischen Philosophie als Ganzer zeigen oder: die dieser Komposition zugrunde liegen. Man versteht dann nicht mehr, dass es einen diesen Strategien übergeordneten Zweck gegeben hat, ein philosophisches Ganzes, in dem Ironie nur ein Element unter mehreren ist. Dieses Ganze widmet sich dem Forschen und Streben nach philosophischer Erkenntnis, nach begrifflicher Klarheit, nach methodologischer Tiefgründigkeit und allgemein: nach bestmöglicher Scharfsinnigkeit des Denkens. Dabei ist natürlich auch die Verteilung entscheidend: quantitativ gesehen wird der Anteil an Ironie in aller Regel deutlich geringer sein als der Anteil an Nicht-Ironie.

Durch die Abwertung insbesondere bei Aristoteles hat sich für den europäischen Ironie-Begriff die Gleichsetzung mit der ‚dissimulatio‘, mit Verstellung und Täuschung, durchgesetzt. Die Romantiker und Frühromantiker haben die skeptische Ironie fast ausschließlich aus einer solchen Warte betrachtet und „in ihr geistigen Hochmut, Willkür, ein schnödes Hinwegsetzen über grundlegende Menschheitsgefühle, kurz eine annihilierende Skepsis“ erblickt.[32] „Im Gefolge des weitreichenden Einflusses von Hegel hat dessen Kritik die Bestimmung der Ironie weit durch das 19. Jh. hindurch negativ beeinflußt.“[33]

Ihre philosophische Bedeutung geriet aus mehreren Gründen in Vergessenheit, und ihr Wirkungskreis wurde immer weiter eingeschränkt auf die Belletristik. Was das „Spektrum der Ironie zu kennzeichnen scheint, liegt in einer eigentümlichen Mischung von Weisheit und Narrheit, Wissen und Ignoranz, bei der sich diese Gegensätze so sehr durchdringen, daß sie ein Ganzes werden“,[34] zum Beispiel in Erasmus‘ ‚Lob der Torheit‘ (Laus Stultitiae) oder in Cervantes‘ ‚Don Quijote‘. In Kombination mit der Vermischung von Erzähler- und Zuhörerebenen erlangt die Ironie kompositorische Bedeutung, besonders in den Romanen des 18. Jahrhunderts in Europa. „Ein Meisterwerk dieser Art ist der Roman ‚Tristram Shandy‘ von Laurence Sterne“.[35]

Schaut man sich die Sachlage etwas genauer und mit einem kritischen Blick an, so ergibt sich: Der Bedeutungswandel, der zu einem Totalverlust der skeptischen Ironie für philosophische Verfahren, so wie es die heute allgemein herrschende Auffassung widerspiegelt, führte, verdankt sich im Grunde der Denkweise einiger weniger Personen im 19. Jahrhundert, nämlich derjenigen Friedrich Schlegels, Friedrich Solgers, Hegels und Kierkegaards. Sie haben die über verschiedenste Epochen, teils auch im Rahmen von gegen die Zensur subversiv antretenden Schriften, gewachsene doppelbödige Klugheit in Ausdruck und Komposition von Texten in einer Weise herabgewürdigt, und zwar so weitreichend und wirkmächtig, dass man heutzutage seine liebe Mühe und Not hat, die Bedeutung und den methodologischen Nutzen der skeptischen Ironie überhaupt bewusst zu machen. Entweder wird Ironie als Stilmittel des Lächerlich-Machens verstanden oder sie wird mit den – ebenfalls in aller Regel nicht mehr als erstrebenswert angesehenen – Neigungen zu obskurem, verschwommenem Denken in Verbindung gebracht, wie viele Romantiker sie offensichtlich hatten. Vladimir Jankélévitch schreibt 1964 in L’ironie:[36] Die „Romantiker haben jenseits der Alternative zwischen Humor und Ernst eine metaphysische Region angepeilt, die diejenige der Coincidentia oppositorum wäre“.[37] Sie haben ein „Jenseits des Komischen und Tragischen leidenschaftlich gesucht, dieses undifferenzierte Chaos“ und es als ‚Ungrund‘, ‚Weisheit‘ oder ‚absolute Identität‘ ausgezeichnet. „Man kennt die Vorliebe der Romantiker für Shakespeare, für Cervantes, für alle diejenigen, die die Imagination in der Ambiguität des Erhabenen und des Possenhaften erhalten“.[38] Der enthaltene Witz wird bei Friedrich Schlegel ‚logische Chemie‘, bei Novalis ‚spirituelle Elektrizität‘, bei Jean Paul ‚Anagramm der Natur‘ genannt.[39] Man bezieht das Konträre, um das es jeweils rhetorisch und stilistisch geht, auf Spiel/Ernst, Lachen/Weinen, Tragik/Komik, Identität/Widerspruch, Sein/Nichts – aber niemals auf: Logik, Reflexion, Begriffsbestimmung, Methodenprüfung oder Unterricht im Denken.

 

4. Was passierte mit der skeptischen Ironie im 19. Jahrhundert? Bezogen auf die skeptische Inszenierung des Ganzen und der Dramaturgie der großen Bögen

Das 19. Jahrhundert ist außerdem das Jahrhundert des Historismus. Das Streben nach Wissenschaftlichkeit, das Interesse an Methode und die Sorgfalt der Suche nach Quellen und ihrer Erforschung stehen auf der Seite der mit dem Historismus verbundenen Errungenschaften. Gleichwohl muss man festhalten: gerade ausgehend von der Orientierung an Objektivität im Historismus kann es geschehen, dass ein Forscher alle möglichen Arten von Texten zu Quellen nivelliert, denen er denselben Status zuweist.

Wenn nun ein Autor mittels des Ausdrucks ‚Ich‘ Aussagen über ‚sich selbst‘ trifft, so haben sie in einem philosophischen Traktat ziemlich sicher eine andere Geltung oder Bedeutung als in einem Tagebuch. Das Problem für historistisch ausgerichtete philosophische Interpretationen: Wenn Texte ohne explizite Ankündigung Ironie oder allgemein uneigentliche Rede enthalten, wird man das allein mit Methoden historischer Forschung und ausgerichtet am Ziel der ‚Objektivität‘ der eigenen Einsichten, nicht unbedingt bemerken. Um es zu bemerken, bräuchte man gewisse Hinweise, die die sondierten Quellen um Informationen ergänzen, die in diesen selbst ohne Weiteres nicht auffindbar sind. Dann aber fragt sich, wie stark die Interpretationsabhängigkeit der historischen Einsicht und Quellenanalyse eigentlich ist. Offensichtlich ist rein anhand eines historischen Dokuments – ohne zusätzliche Anweisungen für das Verständnis und die Auffassungsweise der direkt in dieser Quelle auffindbaren Inhalte – keine belastbare historische Erkenntnis zu gewinnen.

Eine derartige Selbstreflexion oder vielleicht sogar Selbstkritik war den Historikern im 19. Jahrhundert nicht zu eigen. Sie meinten ja, durch das sorgfältige Streben nach Objektivität im eigenen Arbeiten könnten sie gar nicht in solche Bredouillen geraten. Eine Standpunktbestimmung des eigenen Arbeitens oder der eigenen Perspektive war im Historismus grundsätzlich nicht vorgesehen, weil es grundsätzlich nicht für nötig erachtet wurde.

Im Zusammenhang mit der skizzierten Ablehnung der Ironie und der, ebenfalls hegelschem Denken geschuldeten, Propagierung eines Fortschritts im Denken strebte man also nun Zeiten der unbedingten Objektivität historischer Bearbeitung (die an die Stelle des bis dato häufig üblichen Geschichten-Erzählens treten sollte) entgegen und war sicherlich auch der Auffassung, dass man die in der Vergangenheit übliche Satire und den, etwa in Renaissance-Texten, allenthalben gepflegten Spott besser mal hinter sich lassen sollte – denn wo ist da die Objektivität, wenn man spottet und parodiert?

Wie auch in einem anderen Text erörtert lässt sich dem 19. Jahrhundert ideengeschichtlich gesehen mit gutem Gewissen attestieren, dass es von einem knochentrockenen, bierernsten und dickschädelig nach dem Ziel des Rechthabens strebenden Geist beherrscht war, der des öfteren fruchtbare philosophische Debatten unmöglich machte, denn: keiner konnte und wollte mehr Kritik vertragen. Keiner konnte und wollte mehr eingestehen, dass es manchmal besser ist, sich eines Urteils zu enthalten (wie es Kant so oft in seinem Werk fordert), jedenfalls so lange, wie man braucht, um bessere Einsichten oder Evidenzen vorlegen zu können.

In diesem Geist der Unnachgiebigkeit und Rechthaberei, kombiniert mit einer beinahe schon kultischen Anbetung der ‚Objektivität‘ als Ziel wissenschaftlicher Arbeit entfernten sich die Menschen jenes Jahrhunderts in Europa zusehends von den Wegbereitern der Aufklärung, von einem freundlichen Ringen um das bessere Argument, von Toleranz gegenüber Andersdenkenden und von der Bereitschaft zu kritischer Selbstreflexion.

 

5. Abschließende Bemerkungen[40]

Verdeckte Referenzen stellen die Interpretation vor Herausforderungen, besonders wenn Texte doppelbödig sind oder sich durch Polemik und Satire auszeichnen. Auf welches „methodische Rüstzeug“ kann man hier zurückgreifen, um nicht Falsches in den Text hineinzulesen? Dazu erörtert Heinrich Meier mit Blick auf Rousseaus Werk: „Die beste Methode, die wir haben, um zu einem angemessenen Verständnis und zu einer konsistenten Interpretation […] zu gelangen, besteht darin, […] daß wir den Fingerzeigen, den Anspielungen und den Querverweisen nachgehen, die uns der Autor an die Hand gibt, […] daß wir nichts vorschnell als bloße Redensart oder Äußerlichkeit abtun, […] daß wir ein wie zufällig hingeworfenes Wort erst einmal als nicht zufällig ansehen. Wenn das Buch sorgfältig geschrieben ist, wird eine sorgfältige Lektüre keine willkürliche Auslegung erlauben.“[41] Auch in Kants Werk finden sich viele verdeckte Referenzen, und fortwährend wird die Aneignung und die Ablehnung verschiedener Theorien und Begriffen verkoppelt. Die Aufschlüsselung von Anspielungen und verdeckter Bedeutung leisten im Werkverlauf jeweils die späteren Texte. Dies gilt auch für Kants letzte Schrift, Opus postumum, die etliche Fraglichkeiten, die sich im Werkverlauf ergeben haben, auflöst und konsequent transzendentalphilosophisch zuspitzt. Nun ist es nicht anzuzweifeln, dass Kant diese Schrift zum Zweck der Veröffentlichung konzipiert hat, allerdings wäre diesem Text, aufgrund deutlicher Religionskritik, mit großer Wahrscheinlichkeit das Imprimatur verweigert worden. So ist also in Erwägung zu ziehen, dass Kant auf die Veröffentlichung dieser Schrift in einer späteren Zeit, nach seinem Tode und nachdem bestimmte Ressentiments allgemein überwunden sein würden, gehofft hat. Sie wäre also als Veröffentlichung im Sinne einer vorläufigen Nicht-Veröffentlichung konzipiert worden. In einem Zeitalter, in denen man sich auch zum Schutz der eigenen Existenz vor der Zensur in hohem Maße vorsehen musste, wäre das sicher eine kluge Lösung gewesen. Wie stark für manche Autoren in jenen Zeiten wirklich der Zwang war, im Geheimen zu denken und zu schreiben, können wir heute vielleicht nicht mehr ganz adäquat nachvollziehen. War man gezwungen, die Zeitgenossen über seine wahre Vorstellungen zu täuschen, musste man Texte schreiben, die eindeutig vom Gegenteil überzeugen konnten. Im Falle Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) glückte das einigermaßen.

„Die Öffentlichkeit betrachtete Reimarus als einen Vorkämpfer für die Religion […]. Die wenigsten ahnten, wie er über die offenbarte Religion wirklich dachte“.[42] Um Reimarus' Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet […][43] überhaupt als doppelbödigen Text deuten zu können, ist die Lektüre der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes oder die Lektüre der von Lessing veröffentlichten Fragmente eines Ungenannten[44] nötig, und eben nur rückblickend können von dort aus bestimmte Inhalte beurteilt werden. Dies gilt aus meiner Perspektive auf Kants Gesamtwerk auch für Kants Werkkonzeption im Ganzen. Und auch bei Kant sind bestimmte Strategien zum Schutz der eigenen Existenz denkbar;[45] erst die letzte Schrift offenbart auch im Falle Kants ein sehr viel radikaleres Denken, als man den meisten Schriften im Werkverlauf entnehmen kann.

Wenn man auf der Basis neuer Präsuppositionen und Leitlinien für das Verständnis und die Interpretation Kants Gesamtwerk im Ganzen darzustellen will, muss man den einzelnen Schriften Funktionsaspekte zuweisen, die nur ausgehend von diesem Ganzen als „System“ beurteilt werden können. Bereits mit dieser Idee verabschiedet man sich zwangsläufig von der einer historistischen Interpretation zugrundeliegenden Chronologie im Sinne einer Abhängigkeit späterer Schriften von einer Denkentwicklung des Autors. Es müssen stattdessen Planungen und konzeptionelle Entscheidungen in Phasen unterstellt werden, die den Phasen, in denen man vom Autor eine ausgeformte Theorie vorgelegt bekommt, (teils möglicherweise weit) vorausgingen. Damit befindet man sich methodisch in einem Bereich der Spekulation, aber auf das Ganze gesehen ist dieser Interpretationsansatz dennoch erstens lohnend und zweitens mit Blick auf bestimmte Selbstverständlichkeiten der Denkkultur der Aufklärung und Frühaufklärung (die Bedeutung der Rhetorik; der Stellenwert der Eklektik; die Nähe der Systemphilosophie zu enzyklopädischem Denken) zu plausibilisieren – erst recht, wenn man feststellt, dass diese Selbstverständlichkeiten im 19. Jahrhundert nicht mehr als solche erkannt wurden. Wenn diejenigen, die die Kant-Interpretation bis heute auf der Seite der Methoden maßgeblich bestimmen, eben jenem nachkantischen Jahrhundert entstammen, und wenn sie augenscheinlich eben nicht mehr in der Lage waren, enthymemische, anspielende Präsentationen und Bezugnahmen auf Positionen und Debatten der Tradition als solche überhaupt zu registrieren, dann muss man doch als erstes hergehen und diese Interpretations-Geschichte kritisch auseinandernehmen. Statt aus der Unfähigkeit der Autoren im 19. Jahrhundert, bestimmte Eigenheiten der Werkgestaltung zu erkennen, die Aussage zu drehen, dass es diese Eigenheiten ja auch gar nicht gegeben habe (weil sie mit den Methoden eben jener Autoren nicht nachweisbar sind), wäre es doch sehr sinnvoll und zu wünschen, wenn man einmal die Präsuppositionen dieser Interpretationsgeschichte der Kant-Interpretation in ihrer Geltung einklammerte und stattdessen einige Revisionen in Betracht zöge.

 

[1] Diese und die folgenden Passagen sind Auszüge aus: Kants Gesamtwerk in neuer Perspektive.

[2] Vgl. Critik der practischen Vernunft (Zweite Critik), 1788, AA, Bd. 5: 1-161, hier: 107: "so daß die Antinomie der reinen Vernunft, die in ihrer Dialectik offenbar wird, in der That die wohlthätigste Verirrung ist, in die die menschliche Vernunft je hat gerathen können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen".

[3] Vgl. Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763), AA, Bd. 2: 165-204, hier: 197; Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik (1766), AA, Bd. 2: 315-373, hier: 368.

[4] Zweite Critik, Vorrede, 5.

[5] Vgl. Zweite Critik, 6 f. Siehe dazu Kants Gesamtwerk in neuer Perspektive, Kapitel 7.E.

[6] Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796), AA, Bd. 8: 387-406, besonders: 389 u. 393.

[7] Nachricht, 306. Der Lehrer soll „nicht Gedanken, sondern denken“ lehren, man soll den Lehrling „nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, daß er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt seyn soll“ (ebd.). – Vgl. auch Critik der reinen Vernunft (Erste Critik) B.865 u. 866; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt von Immanuel Kant (1798/1800), Bd. 7: 117-334; hier: 102 u. 129; Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen [...] (1800), AA, Bd. 9: 1-150, hier: 22-26; vgl. insgesamt dazu: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie.

[8] Critik der Urtheilskraft (Dritte Critik), 1790/1793, AA, Bd. 5: 169-384, hier: B.158.

[9] Antonio García y García: "Die Rechtsfakultäten", in: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa, Band I: Mittelalter, München 1993, 341-358, hier: 348.

[10] García y García, a. a. O., 348 f.

[11] Siehe dazu Kants Gesamtwerk in neuer Perspektive, Kapitel 2 (Abschnitt 3) und Kapitel 7.B.

[12] Aus Kants Briefen geht hervor, dass oft deutlich kürzere Bearbeitungszeiten angesetzt waren. Vgl. Briefe, z. B. Bd. X, 47 (an J. G. Herder); Bd. X, 256 (an J. J. Engel); Bd. X, 490 (an Chr. G. Schütz); Bd. XII, 35 (an F. Nicolovius).

[13] M. Immanuel Kants neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde (April 1756), Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie, nebst dem Anhange einer kurzen Betrachtung über die Frage: Ob die Westwinde in unsern Gegenden darum feucht seyen, weil sie über ein großes Meer streichen (April 1757), Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe, und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft, wodurch zugleich seine Vorlesungen in diesem halben Jahre angekündigt werden (April 1758), Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus von M. Immanuel Kant, wodurch er zugleich seine Vorlesungen auf das bevorstehende halbe Jahr ankündigt (Oktober 1759) sowie Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erwiesen (vermutl. Oktober 1762).

[14] Der Krieg dauerte vom Frühsommer 1756 bis zum Sommer 1762. Vgl. z. B. Sven Externbrink (Hg.): Der Siebenjährige Krieg (1756-1763): Ein europäischer Weltkrieg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2011.

[15] „An der Universität ging die Okkupation keineswegs vorüber. Die Professoren wurden in ihren Deputaten beschränkt, auch nahm man ihnen die Zensur, freilich blieben die gelehrten Schriften ausgenommen“ (Götz von Selle, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preussen, Würzburg 1956, 157). Vgl. Kazimir Kleofasovich Lavrinovich: Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preussen, Berlin 1999, 127; 146.

[16] Vgl. Norbert Hinske: Kant nimmt „an allen Ecken und Enden zu Problemen Stellung“, die tagesaktuell waren; man dürfe solche Texte nicht ihrem Zeitbezug entrücken (Einleitung, in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, ausgew., eingel. u. kommentiert v. N. Hinske, zus. mit M. Albrecht, Darmstadt 1973, XIII-LXIX, hier: XLVII f.).

[17] Man muss also nicht eine Abfassung „in sehr großer Hast“ (Lothar Kreimendahl: Stellenindex und Konkordanz zu Immanuel Kants „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“. Stuttgart-Bad Cannstatt, 2003; „Einleitung“, IX-LVI, hier: XII) annehmen.

[18] CpV,  52. Kant macht hier und ebenso in fast allen seiner Reflexionen zu genauen Zeitpunkten gar keine Angabe.

[19] Georgios Zigriadis: Zweckmäßigkeit und Metaphysik. Die Neufassung des 'argumentum a contingentia mundi' für die Existenz Gottes in Kants 'Kritik der Urteilskraft', St. Ottilien 2008, IX.

[20] CU B.107.

[21] „Nun spricht die moralisch-practische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg seyn; weder der, welcher zwischen Mir und Dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten […] – denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll.“ Daher müsse man den ewigen Frieden herbeiführen und „dem heillosen Kriegführen, worauf als den Hauptzweck bisher alle Staaten ohne Ausnahme ihre innere Anstalten gerichtet haben“, ein Ende machen. Dies sei der ganze „Endzweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft“ (Die Metaphysik der Sitten – Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797/1798), AA, Bd. 6: 203-372, hier: 354 f.).

[22] Georg Cavallar: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs „Zum ewigen Frieden“ (1795) von  Immanuel Kant, Wien 1992; vor allem: 383-392; hier: 389.

[23] Kant stellt z. B. fest: „Diese Betrachtung ist abstract, und würde wohl einiger Erläuterungen bedürfen, welche ich aber anderer Gelegenheit vorbehalte“ (Optimismus, 31).

[24] Zweite Critik, 5:47.

[25] Es sei, so Jachmann, für Kant der „Schlußstein seines ganzen Lehrgebäudes“ (Reinhold Bernhard Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, Königsberg 1804, 18). Kants Dokument besteht aus dreizehn Konvoluten, teils metaphysisch-methodischen, teils physikalischen Inhalts. Dazu liegt eine Fülle von Untersuchungen vor; siehe Giovanni Pietro Basile: Kants 'Opus postumum' und seine Rezeption, Berlin u.a. 2013.

[26] Metaphysik der Sitten; Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796/97), AA, Bd. 8: 411-422; Anthropologie; Logik.

[27] Den Zusammenhang zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (Dynamik) betonen z. B. Hansgeorg Hoppe: Kants Theorie der Physik. Eine Untersuchung über das Opus postumum von Kant, Frankfurt am Main 1969; Burkhard Tuschling: Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants 'opus postumum', Berlin 1971; Martin Carrier: „Kraft und Wirklichkeit. Kants späte Theorie der Materie“, in: Forum für Philosophie (Hg.): Übergang. Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants, Frankfurt am Main 1991, 208-230; Michael Friedman: Kant and the exact sciences, Cambridge u.a. 1992; Dina Emundts: Kants Übergangskonzeption im Opus postumum. Zur Rolle des Nachlaßwerkes für die Grundlegung der empirischen Physik, Berlin u.a. 2004. Martin Carrier stellt eine Kontinuität im Sinne der teilweisen Auflösung von Problemen oder der Präzisierung von Begriffen heraus (vgl. dazu Basile, a. a. O., 218-221). Den Zusammenhang zur dritten Kritik betont Gerhard Lehmann in: Kants Nachlasswerk und die Kritik der Urteilskraft (1939), abgedruckt in: Lehmann: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Berlin 1969, 295-391, sowie in: „Ganzheitsbegriff und Weltidee in Kants Opus Postumum“, ebd., 248-271.

[28] Opus postumum, Bd. II.393 f.

[29] Nicholas Rescher: „Kant und das Cartesische Cogito”, in: Proceedings of the Sixth International Kant Congress (1985), hg. v. G. Funke et al., Washington, UP 1989-1991, I, 89-103, hier: 89. Zwischen CrV und Opus postumum liege eine „Wende“ (a. a. O., 102).

[30] Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre, Berlin 1918, 436 f. – Vgl. auch Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, Leipzig 1924, 2 Teile: II, 291: „Wir sehen mithin alle kritischen Grundbegriffe und Grundansichten in dem Nachlaßwerke, zum Teil in noch prägnanterer Form, wiederkehren“. – Vgl. mit weiteren Verweisen: Basile, a. a. O., 72 ff.

[31] Im Artikel ‚Ironie‘ im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (HWRh, Band 4,Tübingen 1998, 599-624) schreibt Ernst Behler, „fast alle Theoretiker der Ironie in der klassischen Antike (Aristoteles, Cicero, Quintillian)“ seien „darin einig [...], in Sokrates den eigentlichen Meister der Ironie zu erblicken, der durch das Untertreiben seiner Talente, durch das berühmte Nichtwissen, den Gegenspieler in Verlegenheit versetzt, diesen gleichzeitig foppt und mit Spott auf die richtige Gedankenbahn bringt. Die Ironie erscheint hier in jener ver/feinerten, humanen und zugleich humorvollen Selbstdemütigung, die Sokrates zum Urbild des Lehrers macht“ (600 f.).

[32] Behler, Art. Ironie, 616.

[33] Behler, Art. Ironie, 618.

[34] Behler, Art. Ironie, 607.

[35] Behler, Art. Ironie, 608.

[36] Übersetzt von Jürgen Brakel: Die Ironie, Frankfurt am Main 2012 (Jankélévitch 1964).

[37] Jankélévitch 1964, 135.

[38] Jankélévitch 1964, 136.

[39] Jankélévitch 1964, 137.

[40] Auszüge aus: Kants Gesamtwerk in neuer Perspektive.

[41] Heinrich Meier: „Rousseaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Ein einführender Essay über die Rhetorik und die Intention des Werkes“, in seiner Ausgabe von: Rousseau, Inégalité, Stuttgart 1990, XXII-LXXVII, hier: XXX.

[42] Günter Gawlick: „Einleitung des Herausgebers“ zu seiner Ausgabe von: Reimarus, Religion, 3. Auflage (1766), 2 Bde, Göttingen 1985, Bd 1, 9-50, hier: 13. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, FfaM 1988, 76.

[43] Erschienen in Hamburg 1754 und öfter.

[44] In: Gotthold Ephraim Lessing, Zur Geschichte und Literatur: Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Braunschweig. Fragment 1: „Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten“ ist enthalten im Dritten Beytrag (ebd. 1774, 195-226); fünf weitere Fragmente im Vierten Beytrag (ebd. 1777), und ein letztes gibt Lessing separat heraus: Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten (ebd. 1778). Alle sind im WWW digital frei verfügbar. Vollständig wird die Apologie zuerst 1972 ediert: Gerhard Alexander (Hg.): Hermann Samuel Reimarus. Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2 Bde., Frankfurt am Main.

[45] Kant wurden nicht nur später von der Zensurbehörde Wöllners mit Bezug auf Religion Steine in den Weg gelegt; auch schon 1765 war Beweisgrund auf den ‚Index librorum prohibitorum‘ der katholischen Kirche gesetzt worden (vgl. z. B. Lothar Kreimendahl: „Einleitung“ und „Anmerkungen des Herausgebers“ zu seiner historisch-kritischen Ausgabe von Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, Hamburg 2001, III-CLVII und 141-255, hier: 149).

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